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5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Die logische Analyse spricht somit das Urteil der Sinnlosigkeit über jede vorgebliche Er-
kenntnis , die über oder hinter die Erfahrung greifen will. Dieses Urteil trifft zunächst jede
spekulative Metaphysik , [ … ]. [ … ] Weiter gilt das Urteil auch für alle Wert- oder Normphi-
losophie , für jede Ethik oder Ästhetik als normative Disziplin. Denn die objektive Gültigkeit
eines Wertes oder einer Norm kann ja ( auch nach Auffassung der Wertphilosophen ) nicht
empirisch verifiziert oder aus empirischen Sätzen deduziert werden ; sie kann daher über-
haupt nicht ( durch einen sinnvollen Satz ) ausgesprochen werden. Anders gewendet : Entwe-
der man gibt für „gut“ und „schön“ und die übrigen in den Normwissenschaften verwendeten
Prädikate empirische Kennzeichen an oder man tut das nicht. Ein Satz mit einem derartigen
Prädikat wird im ersten Fall ein empirisches Tatsachenurteil , aber kein Werturteil ; im zwei-
ten Fall wird er ein Scheinsatz ; einen Satz , der ein Werturteil ausspräche , kann man über-
haupt nicht bilden. ( Carnap 1931/32 [ 2004 , 102 f. ])
Wenn ein Teil ohne Bedeutung ist , ist der ganze Satz ein Scheinsatz. Bei Carnap ist es im-
mer Alles oder Nichts. Die Möglichkeit , dass empirische Kennzeichen einen Teil der De-
finition ausmachen können , der Verifizierbarkeit erlauben könnte , kommt Carnap nicht
in den Sinn. Metaphysik ( mit ihr moralische Urteile ) drückten eben keinen theoretischen
Gehalt aus , sondern ein Lebensgefühl , die
Haltung , in der ein Mensch lebt , die gefühls- und willensmäßige Einstellung zur Umwelt ,
zu den Mitmenschen , zu den Aufgaben , an denen er sich betätigt , zu den Schicksalen , die er
erleidet. ( Carnap 1931/32 [ 2004 , 105 f. ])
Das ist durchaus zur Ehrenrettung des Lebensgefühls gemeint. Die Metaphysik sei jedoch
ein inadäquates Ausdrucksmittel für dieses Lebensgefühl. Sie täusche durch die Form ih-
rer Werke etwas vor , was sie nicht sei. „Diese Form ist die eines Systems von Sätzen , die
in ( scheinbarem ) Begründungsverhältnis zueinander stehen , also die Form einer Theorie“
( Carnap 1931/32 [ 2004 , 106 ]).180
Carnap verweist in diesem Zusammenhang auf Dilthey und seine Schüler , wobei er
wohl nicht zuletzt an Nohl denkt , und nennt Nietzsche als denjenigen , der Theorie und
180 Hier findet sich auch die bekannte Aussage über das Verhältnis von Metaphysik und Musik : „Viel-
leicht ist die Musik das reinste Ausdrucksmittel für das Lebensgefühl , weil sie am stärksten von al-
lem Gegenständlichen befreit ist. Das harmonische Lebensgefühl , das der Metaphysiker in einem
monistischen System zum Ausdruck bringen will , kommt klarer in Mozartscher Musik zum Aus-
druck. Und wenn der Metaphysiker sein dualistisch-heroisches Lebensgefühl in einem dualistischen
System ausspricht , tut er es nicht vielleicht nur deshalb , weil ihm die Fähigkeit Beethovens fehlt ,
dieses Lebensgefühl im adäquaten Medium auszudrücken ? Metaphysiker sind Musiker ohne musi-
kalische Fähigkeit.“ ( Carnap 1931/32 [ 2004 , 107 ]) Wie Gabriel offengelegt hat , übernimmt Carnap
hier mit geringfügigen Änderungen Thesen aus Nohls Werk Typische Kunststile in Dichtung und Mu-
sik von 1915. ( Gabriel 2004 , 13 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441