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5.4 Spätphase : Optative
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Der Zusatz „moralisch“ wird in den Umformulierungen übrigens nicht mehr explizit
angeführt , soll aber laut erster Interpretation des Werturteils der Bezugspunkt für die In-
terpretation von „besser“ sein. Deshalb vertritt Carnap mit diesem Beispiel die Ansicht ,
es gebe auch im moralischen Bereich reine Werturteile. Gründe , warum diese Interpreta-
tion für den moralischen Bereich adäquat sei , bleibt Carnap weiterhin schuldig. Das Pro-
blem bleibt , dass damit weder entschieden ist , ob ( 1 ) die natürlichen Moralsprachen reine
Optative enthalten , noch – philosophisch von größerem Interesse – ob ( 2 ) sich morali-
sche Werturteile in adäquater Weise als reine Optative interpretieren lassen ( Carnap tut
dies und setzt die Adäquatheit einfach voraus ).203
Carnap bleibt mit seiner Herangehensweise an die Frage der Interpretation von mora-
lischen Werturteilen auch 1963 an der Oberfläche. Seine Behauptungen sind plausibel auf
Grundlage des Moralverständnisses , das er voraussetzt. Die Diskussion über dieses Ver-
ständnis wird jedoch nicht einmal eröffnet. Sie kommt schlichtweg nicht in den Blick. Für
die Wertphilosophie schlägt er vor , Werturteile in einer standardisierten Form in einer
konstruierten Sprache zu explizieren. Dies würde dazu beitragen , die Natur dieser Urteile
und die logischen Beziehungen zwischen ihnen besser zu verstehen. ( Carnap 1963c , 1012 )
Diese Hoffnung wage ich nicht zu teilen. Eine solche Sprache mag uns helfen , die Urtei-
le klarer auszudrücken , aber erst , nachdem wir ihre „Natur“ und die logischen Beziehun-
gen zwischen ihnen besser verstanden haben.
Insofern folge ich Pauer-Studer in ihrer Behauptung , Carnap übersehe , dass eine Be-
deutungsanalyse von Werturteilen die Interpretation der Wertbegriffe verlange ; „eine In-
terpretation , die darauf basiert , wie Werturteile verwendet werden und die verdeutlicht ,
was es heißt , diese Begriffe zu verstehen“. Genau dann aber sei aus einem Urteil „Das ist
ein gutes Messer“, die gängigen Kriterien für ein gutes Messer vorausgesetzt , der Satz „Das
ist ein scharfes Messer“ ableitbar. ( Pauer-Studer 1993 , 534 ) Carnap liefere , stimmt Pauer-
Studer Michael Dummett zu , keine weit reichenden positiven Aufschlüsse über die Spra-
che der Moral , noch ermögliche er ein tieferes Verständnis des „moralischen Argumenta-
tionsspiels“, da er ( ebenso wie Reichenbach ) die Eingänge so gut wie verschlossen habe.
( Pauer-Studer 1993 , 335 )
Hat sich in dieser amerikanischen Phase ( C3 ) im Vergleich zur logisch-empiristischen
Phase ( C2 ) etwas verändert ? Carnap meint aus seiner eigenen Erinnerung heraus , zumin-
dest in der Frage , ob moralische Werturteile vorübergehende Emotionen bzw. Volitionen
oder stabilere , länger anhaltende gefühls- und willensmäßige Einstellungen ausdrückten ,
hätte sich bei ihm ein Wandel vollzogen. Das ist für die Zeit ab 1935 fraglich : Auch 1935
hatte Carnap ja bereits vertreten , bei Werturteilen und Normen handle es sich um den
Ausdruck von andauernden emotionalen oder volitionalen Dispositionen. ( Carnap 1935 ,
203 Obgleich die Ähnlichkeiten mit Hares Ansatz auf der Hand liegen , wird Hare von Carnap kein ein-
ziges Mal erwähnt. Ich werde auf Hare im Kapitel über Krafts Wert- und Moralphilosophie einge-
hen.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441