Page - 165 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 165 -
Text of the Page - 165 -
6.1 Einleitung
165
Diese EinschÀtzung von Menger als genialer , aber schwieriger Person findet sich in den
folgenden Jahren noch mehrmals. Am 26. April 1923 spricht Schnitzler sogar von psycho-
pathischen Anzeichen :
Nm. Carl Menger ; war ein Jahr in Aflenz ; spricht von seinen mathem. und erkenntnisth. Ar-
beiten , bringt mir einen neuen zweiten Akt ; seine Einsamkeit ; seine Depressionen , bis zu
Selbstmordgedanken. â Ich vermag ihn emporzustimmen ; â find aber sehr ausgesproche-
ne psychopath. Anzeichen in seinem Wesen ( neben Zeichen hoher Begabung ). ( Schnitzler
1995 , 47 , Eintragung vom 26. April 1923 )
Nach seiner Promotion in Mathematik war Menger von 1925 bis 1927 als Mathematiker
in Amsterdam tÀtig , wo er mit L. E. J. Brouwer arbeitete und sich 1926 auch habilitierte.211
Im Anschluss daran kam er nach Wien zurĂŒck und wurde 1927 Professor fĂŒr Geometrie
an der UniversitÀt Wien. Schnitzler spricht nun nur noch vom Genialen :
Zu Tisch der junge Menger , der aus Holland wieder zurĂŒck ; hier auf seine Professur war-
tet. [ ⊠] Er scheint mit seinen 25 schon europĂ€ischen Ruf zu genieĂen und ich spĂŒre im-
mer sein Genie auf einem mir freilich unzugÀnglichem Gebiete. ( Schnitzler 1997 , 121 , Ein-
tragung vom 17. JĂ€nner 1928 )212
Nach seiner RĂŒckkehr nahm Menger nun auch an Sitzungen des Wiener Kreises teil
und verstand sich selbst als dessen Mitglied.213 Dies Ànderte sich jedoch 1929 mit der Pu-
blikation der Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung von Neurath , Hahn und
Carnap entschieden. Obwohl von Mengers Mentor Hahn mitverfasst und sozialistischen
Ideen nicht gÀnzlich abgeneigt , distanzierte sich Menger nicht nur von dieser Schrift ,
sondern verstand sich ab diesem Zeitpunkt auch nicht mehr als Mitglied des Wiener
Kreises. Nun betrachtete er sich nur mehr âals dem Wiener Kreis nahestehendâ ( Men-
ger 1982 , 92 ). Er grĂŒndete sodann das bekannte Mathematische Kolloquium , das er von
211 Es kam jedoch zunehmend zu Spannungen zwischen beiden. Menger missbilligte die deutschnatio-
nale , antisozialistische und legalistische Haltung Brouwers. ( Sigmund 1998 , 7 ; Leonard 1998 , 5 ) Ab
1926 kam es zwischen Menger und Brouwer schlieĂlich zu einem erbitterten PrioritĂ€tenstreit , der in
den Monatsheften fĂŒr Mathematik teilweise öffentlich ausgetragen wurde.
212 Am 18. Oktober 1931 , drei Tage vor seinem Tod , berichtet Schnitzler noch davon , Menger habe ihm
ein Manuskript mit dem Titel âStaatâ, eine Art platonischen Dialog , zu lesen gegeben. ( Schnitzler
2000 , 82 ) Im Menger-Nachlass ist ein solches Manuskript nicht vorhanden. Ebenso wenig ist aus
dem Schnitzler-Nachlass ein solches bekannt.
213 Menger wurde von Hahn eingeladen , der dies schon mit Schlick abgesprochen hatte : ââI have al ready
spoken to him ,â Hahn said. âHe remembers you well and is pleased with the idea that you might join
us.â I thanked Hahn and accepted with anticipation.â ( Menger 1994 , 17 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische KlÀrungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 âWissenschaft und Lebenâ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 âĂberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Spracheâ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 âTheoretische Fragen und praktische Entscheidungenâ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 SpÀtphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle fĂŒr ein vertrĂ€gliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers EthikverstÀndnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer LebensgrundsÀtze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : EudÀmonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂŒndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage natĂŒrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂŒndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 MoralbegrĂŒndung auf der Grundlage primĂ€rer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂŒndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂŒrgerinnen oder BĂŒrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂŒnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂŒrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441