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6.1 Einleitung
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Diese Einschätzung von Menger als genialer , aber schwieriger Person findet sich in den
folgenden Jahren noch mehrmals. Am 26. April 1923 spricht Schnitzler sogar von psycho-
pathischen Anzeichen :
Nm. Carl Menger ; war ein Jahr in Aflenz ; spricht von seinen mathem. und erkenntnisth. Ar-
beiten , bringt mir einen neuen zweiten Akt ; seine Einsamkeit ; seine Depressionen , bis zu
Selbstmordgedanken. – Ich vermag ihn emporzustimmen ; – find aber sehr ausgesproche-
ne psychopath. Anzeichen in seinem Wesen ( neben Zeichen hoher Begabung ). ( Schnitzler
1995 , 47 , Eintragung vom 26. April 1923 )
Nach seiner Promotion in Mathematik war Menger von 1925 bis 1927 als Mathematiker
in Amsterdam tätig , wo er mit L. E. J. Brouwer arbeitete und sich 1926 auch habilitierte.211
Im Anschluss daran kam er nach Wien zurück und wurde 1927 Professor für Geometrie
an der Universität Wien. Schnitzler spricht nun nur noch vom Genialen :
Zu Tisch der junge Menger , der aus Holland wieder zurück ; hier auf seine Professur war-
tet. [ … ] Er scheint mit seinen 25 schon europäischen Ruf zu genießen und ich spüre im-
mer sein Genie auf einem mir freilich unzugänglichem Gebiete. ( Schnitzler 1997 , 121 , Ein-
tragung vom 17. Jänner 1928 )212
Nach seiner Rückkehr nahm Menger nun auch an Sitzungen des Wiener Kreises teil
und verstand sich selbst als dessen Mitglied.213 Dies änderte sich jedoch 1929 mit der Pu-
blikation der Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung von Neurath , Hahn und
Carnap entschieden. Obwohl von Mengers Mentor Hahn mitverfasst und sozialistischen
Ideen nicht gänzlich abgeneigt , distanzierte sich Menger nicht nur von dieser Schrift ,
sondern verstand sich ab diesem Zeitpunkt auch nicht mehr als Mitglied des Wiener
Kreises. Nun betrachtete er sich nur mehr „als dem Wiener Kreis nahestehend“ ( Men-
ger 1982 , 92 ). Er gründete sodann das bekannte Mathematische Kolloquium , das er von
211 Es kam jedoch zunehmend zu Spannungen zwischen beiden. Menger missbilligte die deutschnatio-
nale , antisozialistische und legalistische Haltung Brouwers. ( Sigmund 1998 , 7 ; Leonard 1998 , 5 ) Ab
1926 kam es zwischen Menger und Brouwer schließlich zu einem erbitterten Prioritätenstreit , der in
den Monatsheften für Mathematik teilweise öffentlich ausgetragen wurde.
212 Am 18. Oktober 1931 , drei Tage vor seinem Tod , berichtet Schnitzler noch davon , Menger habe ihm
ein Manuskript mit dem Titel „Staat“, eine Art platonischen Dialog , zu lesen gegeben. ( Schnitzler
2000 , 82 ) Im Menger-Nachlass ist ein solches Manuskript nicht vorhanden. Ebenso wenig ist aus
dem Schnitzler-Nachlass ein solches bekannt.
213 Menger wurde von Hahn eingeladen , der dies schon mit Schlick abgesprochen hatte : “‘I have al ready
spoken to him ,’ Hahn said. ‘He remembers you well and is pleased with the idea that you might join
us.’ I thanked Hahn and accepted with anticipation.” ( Menger 1994 , 17 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Untertitel
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Autor
- Annemarie Siegetsleitner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Abmessungen
- 16.9 x 23.9 cm
- Seiten
- 450
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441