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7. Otto Neurath : Moral
202 Auch wenn Neurath keinen akademischen Abschluss in Philosophie hatte , so betont
Uebel , bildete die Philosophie doch das Zentrum seiner Aktivitäten. ( Uebel 1991b , 8 ) Dem
ist insofern zuzustimmen , als damit nicht Philosophie im Sinne einer Beschränkung auf
Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie gemeint ist , sondern im Sinne grundlegender Re-
flexionen auf verschiedenen Gebieten , welche Neurath zudem auf der Grundlage einer
klaren moralischen Haltung betrieb. Uebel selbst erläutert , es gebe in diesen thematisch
vielfältigen Beiträgen ein gemeinsames Thema , nämlich das Ziel , die sozialen und öko-
nomischen Lebensbedingungen der Menschheit zu verbessern. Als BegrĂĽndung , warum
dieses einigende Band philosophisch relevant sei , sagt Uebel :
It is Neurath’s view of the role which knowledge plays in the project of emancipation and the
nature of his contribution to the understanding of the concept of knowledge itself.
( Uebel 1991b , 8 )
Dieses Ziel ist jedoch nicht nur indirektÂ
– über den Umweg der Erkenntnis- und Wissen-
schaftstheorieÂ
– , sondern auch direkt von philosophischer Bedeutung , wo darüber als mo-
ralische Zielsetzung reflektiert wird. Nicht nur eine theoretische Behandlung der Grund-
lagen der Wissenschaften ist philosophisch , sondern auch jener der Nationalökonomie ,
des Sozialismus oder der Moral.273 Neurath hat hierzu nicht geschwiegen.
Stadler ist einer der wenigen , die ausdrücklich erwähnen , dass Neurath Beiträge zur
Ethik leistete. ( Stadler 1991 , 256 ) Auch Rutte 1986 nennt unter den wichtigsten Schrif-
ten zur Wert- und Moralphilosophie , die von Vertretern bzw. Nahestehenden des Wiener
Kreises verfasst wurden , zwei Werke Neuraths : Lebens gestaltung und Klassenkampf ( 1928 )
und „Soziologie im Physikalismus“ ( 1931/32 ). Es liegen darüber hinaus u. a. frühere ethi-
sche Beiträge vor , die zu vernachlässigen ein falsches Bild von Neuraths diesbezüglichem
Denken ergäbe , weshalb sie in diesem Kapitel Berücksichtigung finden werden. Wobei ,
dies sei vorausgeschickt , Neuraths Auseinandersetzung mit Ethik und Moral oft implizit
und nebenbei erfolgte und es auch in dieser Thematik um „eine gewisse Systematisierung
kontrapunktischer Gelegenheitsarbeiten“ ( Uebel 2000 , x ) geht , und dies verstreut in ei-
nem Werk , das sich kaum überblicken lässt.274 Den Anspruch , jede Äußerung Neuraths zu
diesem Themenfeld heranzuziehen , kann dieses Kapitel aus diesem Grunde nicht erfĂĽllen.
Neurath legt seine Auffassung von Moral und Ethik in seinen Schriften sowohl vor als
auch während der Wiener-Kreis-Periode dennoch durchaus dar. Ich werde zeigen , dass
1934/35 [ 1981b , 623 ]) Neurath verdächtigt auch Schlicks Konstatierungen in der Protokollsatzdebat-
te des Metaphysischen , weil Schlick sie als „absolut festen , unerschütterlichen Berührungspunkt von
Erkenntnis und Wirklichkeit“ beschreibt. ( Neurath 1934/35 [ 1981a , 614 ])
273 Der Beitrag von Hofmann-GrĂĽneberg 1992 ist leider von der verengten Sicht auf Erkenntnistheorie
getragen.
274 Neuraths Opus umfasst gut zwei Dutzend Bücher , gut zwei Dutzend größere Broschüren , mehrere
Hundert Artikel und weitere sonstige Veröffentlichungen. ( Neurath P. 1994 , 14 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441