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7.3 Neuraths Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode
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Stadler hat wiederholt darauf hingewiesen , dass das Verbindende in der spätaufkläreri-
schen Haltung liegt. Diese ist v. a. auch eine humanistische , säkulare moralische Haltung.
Nicht umsonst nennt die Programmschrift als einflussreiche philosophiegeschichtliche
Linie den Eudämonismus ( Neurath / Hahn / Carnap 1929 [ 2006 , 9 ]) und schon zuvor im
Zusammenhang mit dem Liberalismus den Utilitarismus ( Neurath / Hahn / Carnap 1929
[ 2006 , 6 ]). Neben antimetaphysischer Tatsachenforschung und Interdisziplinarität stellt
die Programmschrift wiederholt auf Prinzipien der Diesseitigkeit und Lebensverbunden-
heit ab. ( Stadler 1985 , 117 )297
Die moralische Position muss jedoch nicht notwen digerweise mit einem entsprechen-
den Engagement einhergehen , sofern nicht schon eine Werthaltung als Engagement gilt.
Bejaht von allen , werde sie nur von einigen tat kräftig gefördert. Das Engagement muss
zudem kein politisches im Sinne eines institutio
nellen , „öffentlichen“ Engagements sein.
Es steht vielmehr bei bestimmten Konzeptionen auch der karitative , „private“ Weg offen ,
wie ihn beispielsweise Schlick wählte.
„Wissenschaftliche Weltauffassung“ im umfassenden Sinne ( Bedeutung 3 ) umfasst
ĂĽber die Moral hinaus eine Positionierung hinsichtlich der Politik im Sinne einer institu-
tionellen , „öffent lichen“ Gesellschaftsgestaltung , wobei zumindest tendenziell zwei Vari-
anten zu unter scheiden sind :
1. Die sozialistische Variante : Die menschlichen Lebensbedingungen können nur
durch eine Ă„nderung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ver bessert
werden. Die handelnde gesellschaftliche Einheit ist ( nur ) ein Kollektiv. Das so-
zialistische Reformprogramm ist ein Teil der wissen
schaftlichen Weltauffassung.
2. Die bĂĽrgerlich sozial-liberale Variante : Die menschlichen Lebensbedingungen
kön nen durch eine Änderung der Individuen verbessert werden. Das Indivi-
duum ist die ( einzige ) handelnde gesellschaftliche Einheit. Es geht um Citoyen
und Citoyenne , die gestalten und mitarbeiten. Es handelt sich um eine bĂĽrger -
liche , anti-kollektivistische und in diesem Sinne konser vative Posi tion.
297 Auch in „Die Entwicklung des Wiener Kreises und die Zukunft des Logischen Empirismus“ ( 1936b )
sieht Neurath als Vorläufer des Logischen Empirismus die Anhänger eines „antimetaphysischen , po-
sitivistischen , utilitaristischen , pragmatistischen , materialistischen und skeptischen Gedankenguts“
( Neurath 1936b [ 1981b , 677 ]). Bei Bolzano hebt Neurath hervor , dass dieser unter dem Einfluss von
Saint-Simon und anderen Franzosen zu einer Art Sozialismus gelangt sei. Kraus sei zwar dem Szi-
entismus gegenĂĽber feindselig eingestellt , aber durch seine utilitaristische Denkweise dem Szientis-
mus näher als Heidegger. Im Gegensatz zur deutschen Entwicklung sei in Österreich in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts außerdem eine ganze Generation zum Positivismus , zum Utilitarismus
und zum Empirismus ĂĽbergelaufen. Der politische und wirtschaftliche Liberalismus sei damals fĂĽr
die Übernahme der Macht reif gewesen und machte aus den Universitäten Stützpunkte einer stark
antikirchlichen Haltung. Viele berĂĽhmte Gelehrte vertraten den Liberalismus im Abgeordneten-
und im Herrenhaus. ( Neurath 1936b [ 1981b , 688 ff. ]) In allem wird die moralische und politische Aus-
richtung des „Szientismus“ betont.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441