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8.2 Relativity – A Richer Truth
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zungen lässt sich überhaupt kein Schluss ziehen , der einer tatsächlichen Lebenssituation
angemessen wäre. Folgen würden nur weitere abstrakte Prinzipien. Mit einem wirkli-
chen menschlichen Problem komme man so niemals in Berührung. Erst durch eine ope-
rationale Bedeutungsgebung könne hier ein Zusammenhang entstehen. Frank verdeut-
licht dies am Beispiel „morden“. Wer sich absolut verpflichtet fühlt , ein Gebot „Du sollst
nicht morden“ wörtlich zu befolgen , wird bald merken , dass er „morden“ neu definieren
muss , damit er einer tatsächlichen Situation entsprechen kann. Ist Tötung bei Selbstver-
teidigung Mord ? Das Bombardement feindlicher Städte ? Ist die Tötung eines Tyrannen
Mord ? „Wann ist ein Tyrann Tyranns genug , daß seine ‚Liquidation‘ nicht mehr ‚Mord‘
ist ?“ Auch wer zunächst abstrakt formuliert , muss „morden“ schließlich eine operatio-
nale Definition geben , um eine konkrete Entscheidung treffen zu können. Auf der prak-
tisch wirksamen Ebene unterscheidet den „ethischen Absolutisten“ nichts von einem
„ethischen Relativisten“. ( Frank 1950 [ 1952 , 42 ]) Was man sich in der Formulierung ei-
nes „absoluten“ Gesetzes ersparen wollte , taucht eben in den Erläuterungen wieder auf.
( Frank 1950 [ 1952 , 43 ])
Die feurigsten Kämpfer für die „absolute Wahrheit“ bedienen sich der Lehre der „Relativis-
ten“, wenn sie sich einem wirklichen menschlichen Problem gegenübersehen. Sie sind in der
Lage des Physikers , der praktisch mit der Relativitätstheorie arbeiten muß , ganz gleich , wie
seine philosophische Überzeugung ist und wie sehr er auch die Sprache des Einsteinschen
Systems mißbilligen mag. ( Frank 1950 [ 1952 , 44 ])
Unsere Wahl zwischen „absoluten“ und „relativen“ Zielen sei keine Wahl von Zielen , son-
dern eine Wahl von Sprachen. Wir könnten entweder die „absolutistische“ Sprache zur
Formulierung des Prinzips beibehalten und die „relativistische“ Sprache in die „operati-
onalen Definitionen“ verlegen , oder die Formulierung der Prinzipen selbst „relativieren“
und den „Absolutismus“ von Grund auf verwerfen. ( Frank 1950 [ 1952 , 45 ])
Die Lehre von der „absoluten Wahrheit“ allgemeiner Grundsätze könne sogar Ziele
gefährden , für die gekämpft wird :
Wenn wir einer Behauptung Glauben schenken , in der das Wort „Freiheit“ wie eine „absolu-
te Wahrheit“ mit keiner operationalen Definition versehen , enthalten ist , könnte es gesche-
hen , daß wir am Kampfe auf der Seite teilnehmen , deren Ziele wir im Grunde mißbilligen.
( Frank 1950 [ 1952 , 46 ])
Für Frank sind sinnvolle Moralsysteme möglich. Wie bei einer politischen oder religiösen
Überzeugung geht es Frank bei einer Moral um die Lebensweise , die damit verbunden
ist , um die praktisch wirksame Seite einer Moral. Im Unterschied zu Schlick ist für ihn
( direkter ) „Sinn“ jedoch keine Eigenschaft von Wörtern oder Sätzen , sondern von Sys-
temen. Die pragmatische Bedeutungstheorie schafft eine „natürliche“ Ethik und Moral
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441