Page - 272 - in Ethik und Moral im Wiener Kreis - Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Image of the Page - 272 -
Text of the Page - 272 -
9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
272 [ … ] es kann kein Zweifel sein , daß die Evolution in rastloser Unermüdlichkeit dahin zielt ,
die Menschen , wie überhaupt alles Lebendige , zu glücklicheren Wesen zu machen. ( Schlick
1908 , 56 )355
Auf den ersten Blick scheinen wir es mit einem teleologischen Evolutionsverständnis zu
tun zu haben. Schlick verstand dieses Ziel jedoch schon in diesem frühen Werk – wie
in späteren – nicht als Zweckursache ( causa finalis ) im Unterschied zur Kausalursache.
Schon gar nicht meint er , die Evolution sei eine geheimnisvolle Kraft , die durch ihre Ziel-
bestimmung alles Lebendige zwinge , zu glücklicheren Wesen zu werden. In diesem Sinne
lehnt Schlick spätestens 1912 in seinem Vorlesungsmanuskript „Philosophie der Gegen-
wart“ ein vitalistisches Evolutionsverständnis ab , dem zufolge alles organische Leben auf
einer einzigartigen Lebenskraft beruhe ( Entelechie ), wie es sich beispielsweise bei Alfred
Fouillé findet. ( Schlick [ Philosophie der Gegenwart ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 6 , A. 8 ,
17 ) Und gewiss sieht Schlick bereits in der Lebensweisheit kein bewusstseinsfähiges We-
sen hinter der evolutionären Entwicklung , das diesem Prozess einen Zweck setzen würde.
„Zielt“ wird lediglich metaphorisch verwendet. Dazu bemerkt Schlick in der Lebensweis-
heit , nur dort , wo Menschen in diesen Entwicklungsprozess eingreifen , könne von einem
zweckmäßigen Prozess gesprochen werden :
Dies ist auch der einzige Evolutionsprozeß , den man im strengen Sinne des Wortes als ei-
nen „zweckmäßigen“ bezeichnen kann , denn der Begriff des Zweckes setzt verstandesbegab-
te , vorausschauende Wesen voraus. ( Schlick 1908 , 74 )
Gleichermaßen wird in den gängigen Interpretationen von Darwins Evolutionstheorie
hervorgehoben , dass dieser bei seiner Erklärung der Entstehung von Arten sowohl auf die
Annahme einer der lebendigen Natur immanenten Finalität ( causa finalis ) als auch auf
die Voraussetzung einer das Lebendige zweckmäßig gestaltenden göttlichen Intelligenz ,
einen „designer“ verzichtete. ( Engels 2002 , 341 f. )356 Diese Interpretation , der gemäß Te-
leologie bei Darwin keinen Platz hatte , ist mittlerweile jedoch umstritten und wird zu-
mindest sprachlich in Darwins Werk durchaus nahegelegt.357 Dieses sprachliche Problem
findet sich ebenso in der Lebensweisheit.
Schlick meinte die Aussage über die Zielgerichtetheit der Evolution , nach allem , was
bekannt ist , lediglich als Beschreibung der Gesetzmäßigkeit , wie die Welt der Erfahrung
nach geordnet zu sein scheint. In diesem Sinne stellt Schlick an vielen Stellen seines Wer-
355 Textgrundlage für die Zitate aus der Lebensweisheit bildet die Ausgabe von 2006 in Abteilung I , Band
3 , der MSGA. Die Seitenzahlen folgen jedoch der Originalausgabe von 1908. Diese Originalpaginie-
rung ist in der MSGA ebenso angeführt.
356 Zumindest Die Abstammung des Menschen ( Darwin 1874 ) dürfte Schlick gelesen haben. ( Schlick 1908 ,
166 )
357 Vgl. Lennox 1993.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441