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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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weder in dem Sinne , daß es ihre Sorge wäre , ihm im menschlichen Handeln Wirklichkeit
zu verleihen , noch in dem Sinne , daß sie zu stipulieren oder zu dekretieren hätte , was „gut“
ist. ( Schlick 1930 , 2 )
Ethikerinnen und Ethiker suchen als Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftler – und
nichts anderes hätten sie zu sein – nur Erkenntnis. Alles , was Schlick bisher gesagt hat ,
sieht er als Feststellungen über tatsächliche Verhältnisse , über wertende und moralische
Praktiken. Auch die Begriffsarbeit ist Teil dieser Aufgabe , obgleich sie die philosophische
Aufgabe daran darstellt , die fĂĽr sich genommen keine Wissenschaft ist.
GroĂźe Teile der Abhandlung fallen als moralpsychologische Themenstellungen in den
Bereich empirischer Ethik. Wobei Schlicks Disziplinenaufteilung zufolge alle empiri-
schen Untersuchungen zum menschlichen Verhalten der Psychologie zugeschlagen wer-
den , einschließlich sämtlicher nach dem moralischen Verhalten. Nach heutigem Diszi-
plinverständnis und akademischer Praxis könnte ein Teil hiervon jedoch ebenso innerhalb
der Soziologie behandelt werden. Das zu sehen hat Schlick wohl der Umstand abgehal-
ten , die Moral als gesellschaftliches Phänomen letztlich aus dem Blickwinkel des Indivi-
duums zu sehenÂ
– sowohl als ihr Endzweck als auch ihr zentraler Akteur , im großen Un-
terschied zu Neurath. Ebenso scheint Schlicks begriffs- und sprachbezogene Tätigkeit in
den Fragen zunächst innerhalb der legitimen Aufgabengebiete gut aufgehoben und ergibt
zunächst kein abweichendes Bild.
Hegselmann ordnet Schlicks AusfĂĽhrungen deshalb eindeutig und ausschlieĂźlich der
empirischen Option zu und war dadurch , dass er dies in der Einleitung zur Neuauflage
der Schrift 1984 im Suhrkamp-Verlag tat – bis vor kurzem die einzige leicht zugängliche
deutschsprachige Auflage der Schrift – für deren Interpretation durchaus einflussreich.
( Hegselmann 1984 ) Zu dieser eindeutigen Zuordnung konnte er jedoch nur kommen ,
indem er dem achten und letzten Kapitel des Buches kaum Aufmerksamkeit schenkte.
9.3.2.4 Willensfreiheit und Verantwortung
Bevor ich zum angesprochenen letzten Kapitel der Schrift komme , soll hier kurz auf ein
weiteres Kapitel , das den Titel „Wann ist der Mensch verantwortlich ?“ trägt , eingegan-
gen werden. Hierbei handelt es sich um jenen Teil der Schrift , dem in der Ăśberlieferung
am meisten Interesse entgegen gebracht wurde.412
Willensfreiheit als Scheinproblem : Gleich im ersten Unterkapitel dieses Abschnitts ent-
tarnt Schlick das Problem der Willensfreiheit als ein Scheinproblem , das lediglich durch
ein Missverständnis in die Ethik hineingeraten sei. ( Schlick 1930 , 105 ) Worauf es an-
412 Schlicks AusfĂĽhrungen zu dieser Frage waren im anglo-amerikanischen Raum sehr einflussreich ,
wenngleich sie auch häufig stark kritisiert wurden ( vgl. Rolston 1975 , 261 ). Das Kapitel wurde auch
im deutschsprachigen Raum wiederholt in Anthologien aufgenommen ( z. B. Birnbacher / Hoerster
1976 , Pothast 1978 ).
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441