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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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kenntnis. Obwohl eine einfache dichotome Aufteilung angesichts der komplexen Struk-
tur der moralischen Sprache und der KomplexitÀt , welche die Diskussion mittlerwei-
le angenommen hat , obsolet ist , kann dieser Fragenkomplex nicht einfach ĂŒbergangen
werden. Immerhin handelt es sich bei der globalen Zurechnung logisch-empiristischer
Ethik zum âLagerâ des Nonkognitivismus um einen Gemeinplatz der Standardauffas-
sung und wird diese Einordnung vonseiten der Gegnerinnen und Gegner als zentraler
Vorwurf vorgebracht.
Weithin , wenngleich nicht von allen , wird Schlicks Position dem moralischen Nonko-
gnitivismus zugeordnet. Der semantische Nonkognitivismus in seiner engen Version ist
durch die These charakterisiert , dass moralische SÀtze nicht TrÀger der Wahrheitswerte
wahr / falsch im ĂŒblichen Sinne sind. Dass sie keine kognitive Funktion haben , heiĂt , sie
haben nicht die Funktion , Erkenntnis auszudrĂŒcken ( kognitiv von lat. cognitus , bekannt ,
erkannt ). Der Nonkognitivismus ist in dieser Charakterisierung eine sprachphilosophi-
sche These ĂŒber moralische SĂ€tze. Da es bei moralischen SĂ€tzen gar nicht um den Aus-
druck von Erkenntnis gehe , sei es ebenso sinnlos weiterzufragen , von welcher Art morali-
sche Erkenntnis wÀre , wodurch sich moralische Tatsachen auszeichneten , ob und wie sie
erkannt werden könnten. Solchen Fragen wird der Boden der Sinnhaftigkeit durch den se-
mantischen Nonkognitivismus bereits sprachphilosophisch entzogen. Die Kontroverse um
die Möglichkeit moralischer Erkenntnis wird auf dem Gebiet der Sprachphilosophie aus-
getragen und nach Ansicht der Nonkognitivistinnen und Nonkognitivisten dort ebenfalls
zu ihren Gunsten entschieden. Da der Zusammenhang von semantischen und erkenntnis-
theoretischen Positionen zudem nicht so klar ist , wie vielfach angenommen , habe ich in
meiner Terminologie sowohl einen semantischen als auch einen erkenntnistheoretischen
Kognitivismus bzw. Nonkognitivismus formuliert. Eine Charakterisierung des Nonkog-
nitivismus als jene Position , die moralischen SĂ€tzen auch eine nonkognitive Funktion zu-
weist , ist insofern nicht zweckmĂ€Ăig , da sie offen lĂ€sst , ob solche SĂ€tze aufgrund weiterer
Funktionen nicht trotzdem moralische Erkenntnis ausdrĂŒcken können. Reine Expressi-
vistinnen und Expressivisten sind wie PrÀskriptivistinnen und PrÀskripitivisten semanti-
sche Nonkognitivistinnen oder semantische Nonkognitivisten. Bei Mehr-Komponenten-
Theorien wird die Zuordnung schon schwieriger.
Vermutlich aufgrund von Unkenntnis und aufgrund Ayers Behauptung , mit seiner
Position jene des Logischen Empirismus in dieser Frage auszudrĂŒcken , wurde Schlick so-
wohl dem semantischen als auch dem erkenntnistheoretischen Nonkognitivistismus zu-
gerechnet. NĂ€her als eine nonkognitivistische liegt jedoch eine kognitivistische Interpre-
tation von Schlicks Position , und zwar in ihrer engen Version. Die Position des engen
semantischen Kognitivismus ist durch die These bestimmt , moralische SÀtze seien TrÀger
der Wahrheitswerte wahr / falsch im ĂŒblichen Sinne. Die Position des erkenntnistheoreti-
schen Kognitivismus ist durch die These bestimmt , dass moralische Erkenntnis möglich
sei , d. h. dass moralische SĂ€tze in einer intersubjektiv verbindlichen Weise als wahr / falsch ,
richtig / falsch oder gĂŒltig / ungĂŒltig ausgewiesen werden können.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische KlÀrungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 âWissenschaft und Lebenâ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 âĂberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Spracheâ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 âTheoretische Fragen und praktische Entscheidungenâ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 SpÀtphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle fĂŒr ein vertrĂ€gliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers EthikverstÀndnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer LebensgrundsÀtze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : EudÀmonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂŒndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂŒndung auf Grundlage natĂŒrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂŒndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 MoralbegrĂŒndung auf der Grundlage primĂ€rer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂŒndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂŒrgerinnen oder BĂŒrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂŒnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂŒrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441