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9.3 Schlicks moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Unterscheiden Wertungen vollziehen ( Prophet ) und Werte erkennen. Verwechslung von Mo-
ral und Ethik , nicht predigen , sondern begründen ( Schopenhauer ). Das Wertvolle verwirk-
lichen und feststellen , dass etwas wertvoll ist. Wenn dies überhaupt etwas heißt , so kann es
nur Feststellung von Tatsachen sein , also wahr oder falsch. ( Schlick [ Ethik und Kulturphilo-
sophie ], Nachlass Schlick , Inv.-Nr. 10 , A. 22 , 2 )
Wenn wir nicht annehmen wollen , dass Schlick der Meinung war , es hieße gar nichts , so
vertritt er einen erkenntnistheoretischen Kognitivismus , zumindest in Bezug auf Wertsät-
ze. Schlick befindet sich mit den Nonkognitivisten Carnap und Ayer in dieser Frage nicht
einmal auf demselben Herd , geschweige denn im selben Topf.
Insofern Schlick „moralisch gut“ ( sowohl im gesellschaftlichen als auch individuellen
Sinne ) in inhaltlicher Hinsicht empirisch definiert , tritt kein grundsätzliches Problem mit
dem Verifizierbarkeitsprinzip auf. Haben wir nun jedoch einen reduktionistischen Natu-
ralismus guter alter Empiristenschule ? Und macht Schlick sich damit nicht eines natu-
ralistischen Fehlschlusses schuldig , wie ihn George Edward Moore in der einflussreichen
Principia Ethica allen Naturalistinnen und Naturalisten vorwarf , allen voran den Utilitaris-
tinnen und Utilitaristen ? ( Moore 1903 ) In den Fragen geht Schlick darauf nicht ein. Wenn
wir einer Seminarmitschrift aus dem Jahre 1928 Glauben schenken dürfen , sieht Schlick
darin jedoch kein Problem. Er gesteht Moore zu , dass es sich bei der logischen Äquiva-
lenz von „x ist gut“ mit „x ist lustvoll“ nicht um eine Identitätsrelation handelt , doch sei
dieser Umstand für die Ethik nicht von besonderer Tragweite :
Es ist ja nicht rein äußerlich und irgendwie zufällig , daß derselbe Gegenstand x sowohl die
Funktion φ , wie auch F befriedigt , es läßt vielmehr auf einen sachlichen , inneren Bezug zwi-
schen diesen beiden Funktionen gleicher Extension schließen. U. da wir doch nichts anderes
als eben solche strukturelle Beziehungen konstatieren können [ Beistrich fehlt ] ist der natural.
Trugschluß , der aber allerdings unwissend u. ohne alle diese Überlegungen begangen wur-
de , in weiteren Erörterungen nicht störend. ( Protokoll zum Seminar Moore , Principia Ethi-
ca. WS 1927/28 bis SS 1928 , Nachlass Schlick , Inv.-Nr. B. 34 , hier Protokoll vom 15. Februar
1928 ; verfasst von Else Frenkel429 )
Wir haben es aufgrund der formalen Komponente gar nicht mit einem naturalistischen
Fehlschluss zu tun. Aufgrund der formalen Komponente handelt es sich ebenso wenig um
einen reduktionistischen Naturalismus. Die Definition erschöpft sich nicht in der natu-
ralistischen Komponente.
Schlick war in seiner Erkenntnistheorie allgemein ein Fundamentalist , aber kein Re-
duktionist , wie Olaf Müller überzeugend argumentiert. Schlick glaube an ein Fundament
429 Zu Else Frenkel-Brunswik siehe Fischer 1991c , Frenkel-Brunswik 1996 und das Neurath-Kapitel der
vorliegenden Untersuchung.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441