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9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre
320 Die Funktion , die Philosophinnen und Philosophen einnehmen , wenn sie sich auf diese
Weise mit Lebenspraxis befassen , ist also jene der / des Weisen , in der sich Schlick selbst
mit seinen veröffentlichten und unveröffentlichten Beiträgen sah und darin gefiel. Die
Philosophie schaffe Verständnis , „das zur Weisheit führt“ ( Schlick 1950 , 463 ). Darin sah
er sich in der Tradition von Sokrates.432 Es sei eine schreckliche Verirrung ( confusion ),
dem Philosophen den Charakter eines Wissenschaftlers zuzudenken. ( Schlick 1932 [ 2008 ,
378 ])433 Ganz in diesem Sinne äußert sich Schlick noch in seinem Beitrag „L’école de Vi-
enne et la philosophie traditionelle“,434 den er für den Internationalen Descartes Kongress
verfasste , der 1937 in Paris stattfand. Der Beitrag ist postum erschienen und wird somit in
Abteilung II der MSGA aufgenommen. Darin heiĂźt es :
[ … ] der wahre Vater unserer Philosophie ist weder ein Gelehrter noch ein Logiker weder
Comte noch Frege noch Poincaré noch Russell , die alle späte Glieder einer langen Kette
sind : Es ist Sokrates.
[ … ]
[ … ] er war ein Sucher nach dem Sinn von Aussagen , und insbesondere solcher , mit deren
Hilfe die Menschen ihr moralisches Benehmen gegenseitig beurteilen.
[ … ]
In Wirklichkeit verhält sich die Wiener Schule der Philosophie zu Fragen der Werte und der
Moral genauso wie die Philosophie des Sokrates : FĂĽr sie ist die Ethik eine Aufgabe der Phi-
losophie , und sie weiß , dass die Klärung der moralischen Begriffe für die Menschen unend-
lich wichtiger ist als alle theoretischen Probleme. ( Schlick 1937 , 359 ff. ; Ăśbersetzung A. S. )435
Ebenso wenig folgt aus Schlicks Aussage , die Klärung der moralischen Begriffe sei für
die Menschen wichtiger als theoretische Probleme , dass die Ethik das eigentliche The-
ma der Philosophie zu sein habe , wie Mormann ebenfalls behauptet. Ich sehe es vielmehr
432 Zum Verhältnis Schlicks zu Sokrates siehe Marini 1994.
433 Im selben Jahr lernte Schlick Stebbing , ab 1933 Mitherausgeberin der Analysis , kennen. ( Friedl / Rut-
te 2008d , 563 , Fn. 10 )
434 Obwohl Schlick einer Schulbildung kritisch gegenüber stand , spricht er hier selbst von einer „Wie-
ner Schule“.
435 „[ … ] le vrai père de notre philosophie , ce n’est ni un savant ni un logicien , ni Comte , ni Frege , ni
Poincaré , ni Russell , qui sont tous les anneaux tardifs d’une longue chaîne : c’est Socrate.
[ … ]
[ … ] il fut un chercheur du sens des propositions et particulièrement de celles à l’aide desquelles les
hommes jugent mutuellement leur comportement moral.
[ … ]
En vérité , l’école de Vienne se comporte á l’égard des questions de valeur et de morale , de la même
façon que la philosophie de Socrate : pour elle l’éthique est une tâche philosophique et elle sait que
l’éclaircissement des concepts moraux est infiniment plus important pour l’homme que tous les pro-
blèmes théoriques.“ ( Schlick 1937 , 395 ff. )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale MoralbegrĂĽndung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 MoralbegrĂĽndung auf Grundlage natĂĽrlicher Ziele : Rationale MoralbegrĂĽndung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische MoralbegrĂĽndung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und BĂĽrgerinnen oder BĂĽrger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukĂĽnftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- AbkĂĽrzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441