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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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Kraft prüft hiermit eine individualistische Begründungsvariante. Wie steht es in diesem
Zusammenhang mit den sozialen Regelungen der Moral ? Zwar müsse man Nahrung ,
Wissen , soziale Regelungen usw. als wertvoll anerkennen , weil sie notwendige Bedingun-
gen für das individuelle und soziale Leben darstellten , doch sei dies eben nur eine beding-
te Allgemeingültigkeit , setze sie ja voraus , man wolle das individuelle und soziale Leben
erhalten. Das sei zwar für gewöhnlich der Fall , aber nicht ausnahmslos. ( Kraft 1937 , 191 )
Nicht einmal mit der Lebensbejahung könne man bei allen Menschen rechnen. ( Kraft 1937 ,
194 )499 Diese Begründung taugt nach Kraft für moralische Urteile demnach keineswegs.
Eine Stellungnahme sei zwar insofern objektiv bestimmt , als , wenn man die Befrie-
digung eines Bedürfnisses oder eines Begehrens will und ein Gegenstand dazu naturge-
setzlich notwendig ist , die Stellungnahme zu diesem Gegenstand eindeutig bestimmt ist.
( Kraft 1937 , 192 ) Aber diese letzten , grundsätzlichen Stellungnahmen , auf die sich die
Notwendigkeit bezieht , ließen sich nicht aufnötigen. Deshalb sei auch diese Begründung
einer Allgemeingültigkeit nur eine bedingte. ( Kraft 1937 , 193 )
Die praktische Notwendigkeit fürs Überleben gelte nicht für alle Menschen gleicher-
maßen. So seien Kleidung und Wohnung beispielsweise nur unter bestimmten klimati-
schen Verhältnissen und höheren Kulturstufen fürs Überleben unentbehrlich , obgleich sie
dort , wo sie unentbehrlich sind , von objektivem Wert seien. ( Kraft 1937 , 194 )
Innerhalb ihres Kulturkreises haben diese notwendigen Erfordernisse allgemeingültigen
Wertcharakter – natürlich nur für den , der diesen Kulturkreis bejaht. ( Kraft 1937 , 195 )
Kraft spricht hier von regionaler Allgemeingültigkeit. Einer Moralbegründung auf
Grundlage der Kultur , wie er sie 1951 in der 2. Auflage und schon 1950 in seiner Einfüh-
rung in die Philosophie vorschlagen wird ( siehe unten ), steht Kraft 1937 noch sehr skeptisch
gegenüber : In einer Fußnote dazu spricht er sich ausdrücklich gegen die Auffassung Jo-
nas Cohns ( 1869–1947 )
– eines Habilitanden Windelbands
– in Cohn 1932 aus , der mein-
te , kein Mensch könne die Kultur ernsthaft ablehnen. Ohne dogmatisch zu sein , so Kraft ,
jektiv bestimmt und allgemein gültig ; und ebenso der Unwert dessen , was ihm widerspricht , indem
es das Leben bedroht oder endet
– schwere Verletzung , Krankheit , Tod.“ ( Kraft 1937 , 180 f. ) Ebenso
ist auch 1937 vom „Wesen des Menschen“ die Rede : Im Wesen des Menschen liege es , ein Herden-
tier zu sein. Die Lebensnotwendigkeiten eines sozialen Verbandes seien deshalb auch die eines In-
dividuums. ( Kraft 1937 , 182 ) Ausgeschlossen seien somit Mord ( „beabsichtigte Tötung eines sozialen
Genossen aus selbstischen Motiven“; Kraft 1937 , 182 ) und schrankenlose Täuschung. Betrug sei nur
als parasitäre Erscheinung möglich. Ehrlichkeit , Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein müss-
ten hingegen anerkannt werden. Jeder brauche auch ein Minimum an individuellem Besitz von Ge-
brauchsgegenständen und Werkzeugen. Deshalb seien Beschädigung , Raub und Diebstahl objektiv
negativ ausgezeichnet. ( Kraft 1937 , 185 ff. )
499 Dennoch meint Kraft , das Leben sei eben unter normalen Verhältnissen anzuerkennen und zähle da-
mit zu den natürlichen Gütern. ( Kraft 1937 , 192 ) Der Normalfall als häufigster Fall wird hier als der
natürliche definiert.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441