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10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung
362 Je mehr man sich aber auf die allgemeinen , grundsätzlichen Wertungen beschränkt , für des-
to größere Bereiche , für Generationen , Völker , Kulturkreise , besteht dann eine Übereinstim-
mung in den sozial geltenden Wertungen. ( Kraft 1937 , 217 )
Überindividuelle kollektive Wertungen gelten nur relativ zu regionalen Grenzen , die
durch zeitliche , nationale , konfessionelle , soziale und kulturelle Kreise gegeben sind. Über
diese Relativität führen sie nicht hinaus.
In der entscheidenden Frage , warum jemand eine kollektive Wertung zu einer indivi-
duellen Werthaltung machen müsse , kann Kraft 1937 nur auf Ziele der Individuen verwei-
sen : Wer „in Harmonie mit seinen sozialen Genossen bleiben will“ und auf öffentliches
Ansehen Gewicht legt , müsse diese Wertungen anerkennen. Ebenso gilt dies für jeman-
den , der Sanktionen vermeiden will. ( Kraft 1937 , 213 )
Damit erweist sich auch diese Notwendigkeit nur als eine durch individuelle Ziele be-
dingte. Ihre Anerkennung wird nur unter der Voraussetzung eines Verlangens nach sozia-
ler Harmonie , öffentlichem Ansehen oder der Angst vor Straffolgen aufgenötigt :
Wer sich aus ihrer [ der Genossen ] Mißbilligung nichts macht – der mit der Gesellschaft
Zerfallene
– , wer den Kampf nicht scheut
– der Verkünder neuer Werte
– , kann sie negieren
und ihnen andere entgegensetzen. Wenn die Bedingungen günstig sind , können dadurch die
kollektiven Wertungen selbst gewandelt werden. Umwertende Propheten werden zuerst Ket-
zer , dann Autoritäten. ( Kraft 1937 , 219 )
Ein Teil davon sei zwar wieder objektiv bestimmt. Nämlich jene , „welche unumgängliche
Bedingungen des individuellen und sozialen Lebens überhaupt oder des Lebens innerhalb
bestimmter Kulturkreise auszeichnen“ ( Kraft 1937 , 219 ). Bei aller Objektivität bleiben je-
doch auch diese bedingt. ( Kraft 1937 , 219 )
Die Ausführungen zu bedingt gültigen Werten fasst Kraft folgendermaßen zusammen :
Ein überindividueller Bestimmungsgrund für die Zuschreibung eines Wertcharakters an eine Gegen-
standsbeschaffenheit kann gegeben sein erstens durch Gesetze ( der Logik und der Biologie ) und zwei-
tens in der Anerkennung von seiten der Allgemeinheit. In jenen Fällen ist die Wertzuschreibung ob-
jektiv bestimmt ; in diesem Fall ist sie wohl überindividuell , aber nicht objektiv bestimmt. Beide Male
ist die überindividuelle Gültigkeit nur eine bedingte. Sie hat grundsätzliche Wertungen oder Stel-
lungnahmen – zum individuellen und sozialen Leben – zur Voraussetzung. ( Kraft 1937 , 220 )
Krafts Kommentar zur deutschen Wertphilosophie seiner Zeit lautet deshalb wenig ver-
wunderlich :
Eine unbedingte Allgemeingültigkeit von Wertungen , wie sie die deutsche Wertphilosophie
der Gegenwart annimmt , gibt es nicht. Diesem Ergebnis einer undogmatischen Untersu-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441