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10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode
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chung der Wertung kann man sich nicht verschließen. Das verlangt die Ehrlichkeit und der
Ernst einer wissenschaftlichen Einsicht gegenüber Wünschen und Illusionen. ( Kraft 1937 , 221 )
1937 hängt für Kraft jede mögliche Moralbegründung von Zielen ab , die sich eine( r ) set-
zen mag oder auch nicht. Eine unbedingte Grundlage ist für ihn nicht in Sicht. Zufrie-
den schien er mit diesem Ergebnis nicht zu sein.
10.2.2.2 Der Gattungsgesichtspunkt als Grund unbedingt gültiger moralischer
Werturteile : „Über Moralbegründung“ ( 1940 )
Neben diesen allgemeinen Bemerkungen zur Begründung moralischer Urteile in der 1.
Auflage seiner Wertlehre hat sich Kraft erstmals 1940 ausführlicher mit einer Moralbegrün-
dung beschäftigt , nämlich in dem 35 Seiten umfassenden Aufsatz „Über Moralbegrün-
dung“, der 1940 in der Zeitschrift Theoria erschien. Theoria wurde im neutralen Schweden
publiziert und war vorwiegend analytisch ausgerichtet. In dieser Zeitschrift fand Kraft
während der Kriegszeit , in der er nicht an der Universität tätig sein durfte , ein Publikati-
onsorgan. Mit dem Jahre 1940 befinden wir uns zudem noch immer sehr zeitnah am his-
torischen Wiener Kreis.
Kraft hält es in diesem Aufsatz für wichtig zu untersuchen , inwieweit die Moral sachli-
che Gründe für ihre Allgemeingültigkeit in Anspruch nehmen kann , d. h. dafür , dass ihre
Urteile von allen anerkannt werden müssen. Lassen sich die moralischen Normen als all-
gemeingültig begründen oder handelt es sich um bloßes grund- und sinnloses Herkom-
men ? Die Klärung dieser Frage erscheint Kraft weder unlösbar noch unwissenschaftlich.
( Kraft 1940 , 192 f. ) Er kann sich nämlich nicht damit abfinden ,
dass es nichts als eine alte Tradition , ein irrationales historisches Ergebnis sein sollte , Mord
oder Betrug als böse zu verwerfen. Eine gänzliche Ablehnung der Moral wäre eine Konse-
quenz , vor der wohl auch der radikale Positivist zurückschreckt , [ … ]. ( Kraft 1940 , 192 )503
Kraft präzisiert nun die Begründungsfrage :
1. Eine Moralbegründung muss jene Normen – Kraft betrachtet nun Normen ,
nicht mehr Werturteile – begründen , die gemeinhin als moralische verstanden
werden. Krafts Ausgangspunkt ist also die tatsächlich geltende Moral. Die In-
halte dieser sind für ihn unproblematisch. Seine Theorie ist dadurch direkt an
die moralische Lebenspraxis angebunden , Philosophie ist für ihn nicht l’art
pour l’art. Besonders denkt er hierbei an Normen wie : Du sollst nicht morden !
Du sollst nicht betrügen ! Du sollst deinen Mitmenschen helfen ! Individuel-
le Ziele dürfen nicht gewaltsam durchgesetzt werden ! Es darf niemand ausge-
beutet werden !
503 Im diesem Artikel wird kein „ß“ verwendet.
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441