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10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode
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meinhin anerkannten zu begründen. Sein Ziel ist erreicht , wenn aus seiner Argumenta-
tion die anerkannten folgen. Er verweist deshalb darauf , dass sich diese Forderungen im
Dekalog , bei Schopenhauer oder auch bei Kant finden.522 Besonders auf den Würde-Be-
griff nimmt er hier Bezug :
Seine Würde als Mensch besteht darin , daß er den Anspruch hat , als ein Wesen mit einer
eigenen Lebenssphäre , mit eigenen Zielen und Interessen genommen zu werden. ( Kraft
1968 , 118 )
In diesen Forderungen sieht Kraft „das einzige Mittel , um die Erreichung der primären
Ziele für alle zu ermöglichen“. ( Kraft 1968 , 118 )523
Die unmittelbare Zielsetzung der Moral hat sich insofern gewandelt , als sie auf die Be-
friedigung der primären Strebensziele eingeschränkt wurde. Diese Einschränkung sei aber
nicht Selbstzweck , sondern selbst Mittel. Das umfassende konstitutive Ziel bleibe , mög-
lichst viele Begehren zu befriedigen. Und dieses Ziel müsse aufgrund der Einsicht in die
Gleichheit524 anerkannt werden :
Die möglichste Befriedigung der Begehren für alle ist der Zweck der Moral und die Nor-
men für die Beschränkung der Begehren zugunsten der Erreichung der primären Ziele sind
das [ einzige ; A. S. ] Mittel dafür. Weil der Zweck anerkannt werden muß , darum muß auch
das Mittel zu seiner Erreichung anerkannt werden. ( Kraft 1968 , 121 )
Wie schon in Ansätzen 1963 geht Kraft ausführlich auf Einschränkungen wie Notwehr
ein , wenn es zu Normverletzungen gekommen ist oder diese drohen. Der Ausweg aus dem
Dilemma , „entweder jede Verletzung einer Norm widerstandslos hinzunehmen oder durch
ihre Verhinderung eine moralische Schuld auf sich zu laden“ ( Kraft 1968 , 128 ), bestehe da-
rin , die Normen in ihrer Geltung so weit einzuschränken , dass ihre Durchsetzung nicht
wieder eine Normverletzung involviere. ( Kraft 1968 , 128 ) Hierbei komme dem Recht eine
entscheidende Rolle zu , denn Moral könne die gewaltsame Verhinderung von Normver-
522 Zu Krafts Kritik an Kant siehe Kellerwessel 2002.
523 Reinhard Kleinknecht sieht in dieser Behandlung der Ethik , wie sie Kraft 1968 vorlegt , innerhalb
der logisch-empiristischen Schule „einen wesentlichen Fortschritt“: „Dieser Fortschritt besteht in der
Einsicht , daß sich die Moral überhaupt rationalisieren läßt. [ … ] Aber auch wenn man den Ausfüh-
rungen des Verf. nicht uneingeschränkt zu folgen vermag , so sind sie doch insofern wertvoll , als in
ihnen mit großer Klarheit die Konsequenzen entwickelt werden , die sich ergeben , wenn man über-
haupt eine Begründung der Moral durch Erkenntnis für möglich hält.“ ( Kleinknecht 1969 , 36 )
524 Eine egalitäre Moral ergibt sich für Kraft daraus jedoch nicht. Er hält die „Auslese und Bewah-
rung einer Elite“ für unerlässlich , „wenn die Höhe der Kultur und ihr Fortschritt gewahrt werden
soll“ ( Kraft 1968 , 124 ). Sind die primären Begehren befriedigt , müssen bei der Befriedigung weiterer
durchaus Unterschiede gemacht werden. ( Kraft 1968 , 124 )
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441