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12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen
410 des größtmöglichen Glücks der Menschheit betreiben , doch bleibe dieses Ziel als positiv
bewertetes aus diesen Disziplinen selbst ausgeklammert. Werturteile sind nicht Teil die-
ser Disziplinen. Eine eigene Disziplin Ethik ließe sich überhaupt nicht abgrenzen. Die
Möglichkeit , alle Gewohnheiten und Regeln , die auf das Wohl aller abzielen und gemein-
sam beschlossen werden , „Moral“ zu nennen und alle wissenschaftlichen Unter suchungen ,
die mit diesem Ziel direkt zusammenhängen , einer Disziplin „Ethik“ zuzuordnen , wäre
Neurath auch in dieser Zeit offengestanden. Für Neurath war der Name „Ethik“ zu jener
Zeit jedoch nur für eine normative Disziplin anzuwenden , die sich auf die Befehle Got-
tes oder einer anderen höheren Macht stützt. Ethik war normativ und dogmatisch. Als
solches konnte sie nicht Teil einer Einheitswissenschaft sein. Dennoch ließ Neurath ab
1935 zunehmend offen , ob und wie Termini wie „Ethik“ oder „Pflicht“ in einer Einheits-
wissenschaft Platz finden könnten. Ob es zu einer weiteren Rehabilitierung bestimmter
Konzeptionen von Ethik gekommen wäre , wenn Neurath nicht so früh verstorben wäre ,
wird für immer unbeantwortet bleiben.
Nach Schlick finden sich viel zu viele absolute Annahmen in der herrschenden Ethik.
Dessen ungeachtet wollte er weiterhin an Ethik festhalten. In Fragen der Ethik ( 1930 ) be-
treibt er sogar entgegen seinen eigenen Vorgaben , laut deren er sich auf begriffliche Vor-
arbeiten für eine empirische Moralpsychologie beschränken will , nicht nur inhaltliche ,
sondern auch normative Ethik. Es geht darin um die Begründung der gesellschaftlichen
Moral durch einen individuellen Eudämonismus. Das moralische Handeln sei ein zweck-
mäßiges Mittel zur Erlangung eines glücklichen und glücksfähigen Lebens. Gütige Men-
schen seien im Durchschnitt glücklicher als Egoistinnen und Egoisten. Weisheits- und
Morallehre fallen nun zusammen , insofern die gesellschaftliche Moral vom individuellen
Eudämonismus als Weg zum Glück mit umfangen wird. Bei Schlick gehört es zur Ethik ,
nach der richtigen Moral zu suchen , eine solche zu formulieren und zu begründen. Er
bot in seiner Ethik demgemäß eine Lebensorientierung an. Besonders in seinem postum
erschienenen Werk Natur und Kultur , an dem er ab 1932 arbeitete , betreibt Schlick nach
heutigem Verständnis Angewandte Ethik. Es geht darin um politische , Rechts- , Wirt-
schafts- und Technikethik auf der Grundlage eines universellen Eudämonismus. Für ihn
ging zudem der Weg der Philosophie zu lebenspraktischen Fragen direkt , nicht über die
Wissenschaftstheorie wie beispielsweise für Neurath und Frank. Er sah sich in einer Tra-
ditionslinie mit Sokrates , Epikur , Hume , Comte , Mill , Feuerbach , Schopenhauer , Nietz-
sche und Guyau. Obwohl nach Schlick Philosophinnen und Philosophen in einer empi-
ristisch-liberal-aufklärerischen Moral- und Ethikkonzeption keine besondere moralische
Autorität zukomme , könnten sie durch Begriffs- und Sinnklärung der Moral als Le-
benspraxis dienen. Sinn- und Begriffsklärung gelten ihm als sehr lebensnah. ( Schlick 1932
[ 2008 , 389 ]) Neben der Analyse der wissenschaftstheoretischen Begriffe zählt für Schlick
die Klärung moralischer Begriffe deshalb zu den genuinen Aufgaben der Philosophie.
Diese Untersuchungen seien für die Menschen sogar wichtiger als theoretische Proble-
me. Schlick faszinierte bei Wittgenstein das Ernstnehmen des Unsagbaren , er wollte je-
Ethik und Moral im Wiener Kreis
Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Ethik und Moral im Wiener Kreis
- Subtitle
- Zur Geschichte eines engagierten Humanismus
- Author
- Annemarie Siegetsleitner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79533-9
- Size
- 16.9 x 23.9 cm
- Pages
- 450
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- 1. Einleitung 13
- 2. Terminologische Klärungen 37
- 3. Moral und Ethik im Wiener Kreis und die Standardauffassung logisch- empiristischer Ethik 52
- 4. Das kulturelle Umfeld des politischen und moralischen Engagements 67
- 5. Rudolf Carnap : Individualistischer Dezisionismus und wissenschaftlicher Humanismus 89
- 5.1 Einleitung 89
- 5.2 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik vor der Wiener-Kreis-Periode 92
- 5.3 Carnaps Konzeption von Moral und Ethik in der Wiener-Kreis-Periode 111
- 5.3.1 Der logische Aufbau der Welt ( 1928a ) und die Konstitution von Werten 111
- 5.3.2 Scheinprobleme in der Philosophie ( 1928b ) 120
- 5.3.3 „Wissenschaft und Leben“ ( 1929b ) 123
- 5.3.4 „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ ( 1931/32 ) 129
- 5.3.5 „Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen“ ( 1934a ) 133
- 5.3.6 Philosophy and Logical Syntax ( 1935 ) 136
- 5. 3. 7 Carnaps moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 138
- 5.3.8 Carnaps individualistischer Dezisionismus und die Lebenspraxis 141
- 5.3.9 Möglichkeiten und Grenzen der Ethik 148
- 5.4 Spätphase : Optative 149
- 5.5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 160
- 6. Karl Menger : Mathematische Modelle für ein verträgliches Zusammenleben 163
- 6.1 Einleitung 163
- 6.2 Mengers Logik der Sitten 168
- 6.3 Mengers Moralauffassung 177
- 6.3.1 Moral 1. und 2. Stufe , Basismoralen 177
- 6.3.2 Sinn und Zweck der / einer Moral 177
- 6.3.3 Kritik am Kategorischen Imperativ 179
- 6.3.4 Mengers Konzeption der Moralsprache : Semantischer Nonkognitivismus 180
- 6.3.5 Moralische Erkenntnis : Fundamentaler Nonkognitivismus und systemimmanenter Kognitivismus 182
- 6.4 Mengers Ethikverständnis 186
- 6.5 Menger und die Angewandte Ethik 193
- 6.6 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 194
- 7. Otto Neurath : Moral auf der Grundlage gemeinsam beschlossener humanistischer Lebensgrundsätze und Ethik in der Einheitswissenschaft 196
- 8. Philipp Frank : Pragmatische Ethik und relativierte Moral 251
- 9. Moritz Schlick : Eudämonistische Ethik als Weisheitslehre 265
- 10. Victor Kraft : Zwei-Komponenten-Kognitivismus und rationale Moralbegründung 332
- 10.1 Einleitung 332
- 10.2 Krafts moralische und ethische Auffassungen in der Wiener-Kreis-Periode 337
- 10.3 Krafts moralische und ethische Auffassungen nach der Wiener-Kreis-Periode 371
- 10.3.1 Moralbegründung auf Grundlage der Kultur : Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre , 2. Auflage ( 1951 ) 371
- 10.3.2 Moralbegründung auf Grundlage natürlicher Ziele : Rationale Moralbegründung ( 1963 ) 374
- 10.3.3 Moralbegründung auf der Grundlage primärer Strebensziele : Die Grundlagen der Erkenntnis und der Moral ( 1968 ) 377
- 10.4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen 383
- 11. Herbert Feigl : Pragmatische Moralbegründung 387
- 12. Systematische Zusammenfassung und allgemeine Schlussbemerkungen 402
- 12.1 Mangelndes Interesse an Moral als Menschen und Bürgerinnen oder Bürger 402
- 12.2 Geteilte moralische Haltung : wissenschaftlicher Humanismus 403
- 12.3 Differenzierungen in den Moralkonzeptionen 404
- 12.4 Differenzierungen in den Ethikkonzeptionen 409
- 12.5 Ausblick auf zukünftige Forschung 412
- 12.6 Allgemeine Schlussbemerkungen 413
- Literatur 417
- Abkürzungen 440
- Bildquellennachweis 440
- Personenregister 441