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14 Einleitung
renkonstitution.16 Mehr noch : âImmer dann, wenn Musil als ErzĂ€hler seinem
Thema nicht mehr gerecht werden kann, behilft er sich mit Reflexionen und
mehr oder weniger essayistischen ĂuĂerungen der unterschiedlichsten Art.
Wo er mit seinem Philosophieren am Ende ist oder wo ihm das Meditieren
keinen SpaĂ mehr macht, kehrt er, ohne sich viel MĂŒhe zu geben, zum Fabu-
lieren zurĂŒck.â17 Indem er dem inkriminierten Autor fehlende Anstrengung
unterstellt und damit voraussetzt, dass dieser nur dem Prinzip des geringsten
Widerstands folge, ergÀnzt Reich-Ranicki sein zentrales Argument durch ein
Ressentiment ; er suggeriert : HĂ€tte Musil sich bloĂ MĂŒhe gegeben, wĂ€re sein
essayistischer Stil unvorstellbar.18
Vor in der Literaturkritik ansonsten verpönten Argumentationen ad homi-
nem schreckt Reich-Ranicki in seinem Musil-bashing generell nicht zurĂŒck,
womit er das dritte von Musil ausgehende Ărgernis benennt : âEin erfolgloser
Schriftsteller blieb er bis ans Ende seines Lebens.â19 Sein Versagen habe sich
der widerstÀndige und missratene Dichter gÀnzlich selbst zuzuschreiben :
Vom mehr oder weniger manischen SendungsbewuĂtsein geblendet, wurde Musil
in wachsendem MaĂe zu einem unglĂŒcklichen, weltfremden Individuum. / Schon
in den zwanziger Jahren fiel es ihm schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In
den dreiĂiger Jahren wurde seine Not, da er sich fast ausschlieĂlich dem âMann ohne
Eigenschaftenâ widmete, immer schlimmer. Musil wohnte zusammen mit seiner Frau
in Wien, in einer dĂŒrftigen, einer engen und Ă€rmlichen Wohnung ohne flieĂendes
Wasser [âŠ]. Doch auch fĂŒr dieses kĂŒmmerliche Dasein fehlten ihm die Mittel. Er
war â im Klartext gesprochen â auf Almosen angewiesen [âŠ]. / Weil er sich selber
stets im Wege stand, weil ihm seit Mitte der zwanziger Jahre so gut wie nichts gelin-
gen wollte, wurde er mit der Zeit zu einem verbitterten und gehÀssigen Menschen.20
Reich-Ranicki fĂŒhrt Musils angeblichen kĂŒnstlerischen Bankrott allein auf
dessen verquere Persönlichkeitsstruktur zurĂŒck : âDer wichtigste Grund sei-
nes Scheiterns ist nirgends anderswo zu suchen als in seiner unglĂŒcklichen
16 Die Musilâsche Figurenkonstitution wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung Gegen-
stand ausfĂŒhrlicher Erörterung sein ; vgl. unten Kap. II.2. Dazu auch Martens : âRettet den Mann
ohne Eigenschaften !â, S. 454.
17 Reich-Ranicki : Der Zusammenbruch eines groĂen ErzĂ€hlers, S. 188.
18 Zu den konzeptionellen HintergrĂŒnden des essayistischen ErzĂ€hlens vgl. unten Kap. I.2.3, I.3.2
u. III.1.2.
19 Reich-Ranicki : Der Zusammenbruch eines groĂen ErzĂ€hlers, S. 165.
20 Ebd., S. 194 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208