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16 Einleitung
verarbeiteten Quellen nicht verzeichne.27 Welcher ernst zu nehmende Autor
der modernen Literatur hÀtte das im Rahmen eines ErzÀhltextes jemals ge-
tan ? Unter solchen Auspizien mĂŒsste Reich-Ranicki genauso den von ihm
verehrten Thomas Mann als Plagiator diskreditieren, sind dessen bisweilen
seitenlange Zitate nicht nur aus Meyers Konversations-Lexikon doch seit langem
bekannt, ohne die QualitÀt des literarischen Werks in irgendeiner Weise zu
beeintrÀchtigen. Besonders intrikat wird der Vorwurf aber dann, wenn man
berĂŒcksichtigt, dass Musil im Mann ohne Eigenschaften wie kaum ein Autor vor
ihm tatsĂ€chlich Zitate durch AnfĂŒhrungszeichen typografisch markiert und
auf diese Weise als ĂŒbernommene, hĂ€ufig (ideologisch oder anderweitig) ver-
festigte, bisweilen stark formelhafte Ausdrucksweise in ein SpannungsverhÀlt-
nis zum figĂŒrlichen Erleben sowie zur Figurenrede bringt28 â eine stilistische
Eigenheit, die Reich-Ranicki ins Gegenteil verkehrt. Eine eklatante Fehlinfor-
mation ist auch die Behauptung von Musils angeblicher Unkenntnis der wis-
senschaftlichen Entwicklung âin den zwanziger und dreiĂiger Jahrenâ29. Wie
zahlreiche Untersuchungen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt haben, lassen
sich in der modernen europÀischen Literatur wenige Autoren finden, die auf-
merksamer die Forschungsergebnisse ihrer Zeit verfolgt haben als Musil (was
selbstredend kein QualitÀtsausweis seiner Prosa ist, wie hier nur vorsichtshal-
ber angemerkt sei). Allerdings muss man die damalige wissenschaftliche Ent-
wicklung selber kennen, um Musils Auseinandersetzung mit ihr ĂŒberhaupt
wahrnehmen zu können â oder aber einen Blick in seine als âTagebĂŒcherâ
bekannten Arbeitshefte werfen, in denen er eine schier unendliche Menge
an wissenschaftlichen und populÀrwissenschaftlichen Publikationen verzeich-
net und zum Teil ausfĂŒhrlich exzerpiert ; der von seiner lustlosen LektĂŒre
erschöpfte Literaturpapst hat solche âtrockenenâ Passagen offenbar ĂŒberblĂ€t-
tert. Ebenfalls ĂŒberraschend ist Reich-Ranickis autoritative â fĂŒr ihn jedoch
höchst ungewöhnliche â Berufung auf Walter Benjamin als Musil-VerĂ€chter.30
27 Ebd., S. 159 u. 189. Nicht nur ungenau, sondern schlichtweg falsch ist auch die Behauptung, dass
Musil im Mann ohne Eigenschaften zitiere, âohne je AnfĂŒhrungszeichen zu setzenâ (S. 189). Im
Romantext ĂŒberrascht im Gegenteil die fĂŒr das Genre eher ungewöhnlich hĂ€ufige Setzung von
AnfĂŒhrungszeichen bei Zitaten aus anderen Werken.
28 Vgl. dazu das Kapitel âTechniken der Zitierkunstâ in Goltschnigg : Mystische Tradition, S. 114â
118, bes. S. 115 ; eine ganze Romaninterpretation âam Paradigma des Zitatsâ (so der einschlĂ€-
gige Untertitel der komparatistischen Monographie) unternimmt Kaiser : Proust · Musil · Joyce,
S. 84â144.
29 Reich-Ranicki : Der Zusammenbruch eines groĂen ErzĂ€hlers, S. 191.
30 Vgl. ebd., S. 192. Zu Benjamins Urteil ĂŒber den Mann ohne Eigenschaften vgl. Makropoulos : Mo-
dernitĂ€t als Indifferenz ? ; Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 25â29 ; Wolf : Warum Moosbrug-
ger nicht erzÀhlt, S. 356.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208