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28 Einleitung
schiebung der festen Diskurstypen hinwirken.â82 Die im Roman verhandelten
historischen Denk- und Redeweisen haben die Aufgabe, âdie Welt, den Men-
schen, die Aufgliederung und das Funktionieren der Gesellschaft zu erklĂ€renâ.
Es geht also weniger um âeine mimetische TĂ€tigkeit, die beabsichtigt, Welt,
Gesellschaft, Leben abbildend darzustellen, als vielmehr [um] ein Ausprobie-
ren der verschiedensten Diskursarten in einem versuchsweise angeordneten
Zusammen- und Durcheinanderwirkenâ.83 Welche Implikationen hat das âin-
terdiskursive Experimentierenâ nun in darstellerischer Hinsicht ?
Die Darstellungsarten sind weitgehend durch die strukturellen Möglichkeiten des
Romantexts bestimmt. Im M[ann] o[hne] E[igenschaften] wird ein groĂes Spektrum
von beruflichen Rollen in Szene gesetzt. Mathematiker, KĂŒnstler, Psychiater, Poli-
tiker, Bankier, Jurist, General, Diplomat, Professor. Diese sind alle, unter anderem,
durch die Beherrschung einer bestimmten Diskursart festgelegt : Die Interaktion
zwischen den Romanfiguren, die diese Rollen verkörpern, verlangt vom Autor die
teilweise oder globale Darstellung vieler Diskursarten, und zwar in einer mimetisch
abbildenden Art. Dabei gilt es, die Diskursarten so wiederzugeben wie sie in Wirk-
lichkeit, das heiĂt in einer als auĂertextueller Referenz gesetzten RealitĂ€t praktiziert
werden oder wurden. In ihrer Aneignung durch die Romanfiguren erscheinen die
diskursiven ZĂŒge und Haltungen gewissermaĂen in ihrer Praxis, allerdings in der fik-
tiven [gemeint ist wohl : fiktionalen, N. C. W.] Brechung des âals obâ.84
Moser attestiert dem Musilâschen Roman eine besondere FĂ€higkeit, nichtfik-
tionale Diskursarten aus dem textexternen Raum mimetisch in den Text zu
integrieren und deren Gebrauch in actu gleichzeitig als soziale Praktiken zu
charakterisieren, woraus sich auch dessen (nicht nur) zeitdiagnostisches Po-
tenzial ergibt. Durch dieses dem literarischen Diskurs zugebilligte kritische
âPrivilegâ85 unterscheidet sich Mosers Ansatz von spĂ€teren diskursanalyti-
schen Arbeiten zu Musil, die in engerer Anlehnung an Foucault dem Autor
und seinem literarischen Text weitaus geringeren Gestaltungsspielraum zu-
82 Ebd., S. 172.
83 Ebd., S. 177 f.
84 Ebd., S. 180.
85 Vgl. ebd., S. 188 f.: âDem literarischen Diskurs wird [âŠ] das Privileg eingerĂ€umt, das ganze
Diskurssystem, von dem er selbst ein Teil ist, sowohl darzustellen, als auch in Frage zu stellen.
[âŠ] Das Literarische ist nicht etwa privilegiert, weil es wahrer wĂ€re, weil es mehr Wissen und
Kenntnis enthielte als andere Diskursarten, sondern vielmehr, weil es aufgrund seiner Aussage-
bedingungen fĂŒr interdiskursives Experimentieren verfĂŒgbarer ist.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208