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31Die
MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung
die sie vertreten â man denke nur an Walter oder an Diotima, die damit nicht
zuletzt unbewÀltigte Probleme ihres beruflichen Werdegangs oder ihrer Ehe
kompensieren. In anderen FĂ€llen â etwa bei Arnheim â dient die leerlaufende
Diskursivierung unter anderem der Camouflage ganz handfester wirtschaftli-
cher Interessen. Das jeweils charakteristische KorrespondenzverhÀltnis zwi-
schen sozialer Position und diskursiver Positionierung95 wird vom ErzÀhler an
zahlreichen Stellen sogar ausdrĂŒcklich thematisiert, wie im Verlauf der vorlie-
genden Untersuchung gezeigt werden soll. Die auf diese Weise erzÀhlerisch
angestoĂene, gleichsam soziologische Analyse der Korrespondenz von Stel-
lung und Stellungnahme bewirkt Ideologiekritik im besten â eben nicht durch
einen ganz spezifischen ideologischen Systemzwang tingierten â Wortsinn.
Erreicht wird damit nicht allein die schonungslose Analyse einer spezifischen
Epochensignatur, sondern darĂŒber hinaus auch die Offenlegung der Funkti-
onsweise unbewusster diskursiver Funktionalisierungsstrategien ganz generell.
Die von Böhme eingeschlagene Richtung hat Rolf GĂŒnter Renner vom Be-
reich des ErzÀhlten auf den der ErzÀhlung selbst ausgeweitet und konsequent
radikalisiert : Das ErzĂ€hlen folge bei Musil nicht mehr âden Gesetzen der Ein-
deutigkeit und KausalitĂ€tâ, sondern unterstehe âjener Figur des Rhizoms, die
man immer wieder dem finalen und kausalen Denken der Moderne entgegen-
gesetzt hat. [âŠ] Auch die geschichtliche Ordnung erhĂ€lt unter diesen Bedin-
gungen nicht mehr Evidenz als eine bloà [?] erzÀhlte, selbst in der Parallelak-
tion, die eindeutigen Referenzen auf die historische Wirklichkeit entspringt,
geht es nicht um die Bewertung des Authentischen und die BegrĂŒndung von
Urteilen.â96 Scheint dieser Befund auch im GroĂen und Ganzen plausibel, so
sind doch mehrere Differenzierungen hinsichtlich des ErzÀhlens wie des Er-
zĂ€hlten angebracht : 1. Wenn sich das Musilâsche ErzĂ€hlen tatsĂ€chlich unter
dem Zeichen einer allgemeinen Kontingenz âzu einer spielerischen wie asso-
95 Es handelt sich bei der vom Romantext unternommenen âAnalyse der Weltanschauungenâ
nicht bloĂ um eine Relationierung von âmentale[n] Gegebenheiten mit psychischen ZustĂ€nden
der Figurâ, wie Vollhardt : âWeltâan=Schauungâ, S. 520, betont. Wenn âdie einzelnen Figurenâ
des Mann ohne Eigenschaften âdas Wahrgenommene auf ihre eigenen BedĂŒrfnisse und Muster
der Weltdeutung beziehenâ (S. 525), dann tun sie das jeweils auch in AbhĂ€ngigkeit von ihrer
sozialen Stellung, die ihre Perspektive (mit)bedingt.
96 So Renner : Transformatives ErzÀhlen, S. 79. Renners These, wonach die essayistische Reflexion
im Mann ohne Eigenschaften âbereits als eine Vorzeichnung von Ăberlegungen [erscheint], wel-
che die Kritik der Subjektphilosophie im Poststrukturalismus entfaltenâ (S. 73), muss in mancher
Hinsicht relativiert werden ; mehr dazu unten. Die hĂ€ufige Verwendung der Partikel âbereitsâ im
Zusammenhang der Rennerâschen Diagnose von Musils angeblich âprĂ€-postmodernemâ ErzĂ€hl-
verfahren impliziert im Ăbrigen selbst ein â ansonsten dekonstruiertes â geschichtsphilosophi-
sches Apriori.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208