Seite - 33 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 33 -
Text der Seite - 33 -
33Die
MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung
ErklĂ€rung des realen Geschehens interessiert mich nicht.â (GW 7, 954)101 Im
Entwurf zu einer Vorrede aus dem Jahr 1930 wiederholt Musil in diesem Sinn,
dass er ânicht historisch treu sein willâ (MoE 1938 ; M II/1/266 ; vgl. auch
MoE 1817), und 1933/34 hĂ€lt er in einer Notiz fĂŒr ein Vorwort hinsichtlich der
anachronistischen âUnrichtigkeitenâ fest : âIch schildere nicht wahrheitsge-
treu, ich schildere sinngetreu !â (MoE 1893 ; M I/3/11) Bereits am 5. Februar
1933 hatte er einem interessierten Leser mitgeteilt, es gebe âeinigeâ durchaus
beabsichtigte Anachronismen in seinem Buch ; er habe sie ânicht gescheutâ,
weil er âdas ganze Buch nicht sowohl historisch meine, als vielmehr damit
ein perennierendes ideologisches Substrat bloĂlegenâ wolle (Br 1, 560). Noch
Jahre spĂ€ter stellt er aus dem RĂŒckblick fest, er habe mit dem Mann ohne EiÂ
genschaften einen âaus der Vergangenheit entwickelte[n] Gegenwartsromanâ
zu schreiben angestrebt (MoE 1941).102 Anstelle einer mimetischen Wieder-
gabe der sozialen Wirklichkeit im Medium des Romans reklamiert der Autor
ein vollkommen anderes Darstellungsziel, wie noch genauer auszufĂŒhren sein
wird. Die Annahme der Möglichkeit einer LektĂŒre des Romantextes ohne
jede BerĂŒcksichtigung der HistorizitĂ€t des Chronotopos103 Wien im Jahr 1913
erscheint jedoch nicht nur reichlich konstruiert, sondern vollkommen kon-
traintuitiv. In diesem Fall wĂŒrde auch ein guter Teil der erzĂ€hlerischen Ironie
ihren auĂertextuellen Bezugspunkt â und damit ihre kritische Spitze â verlie-
ren. Nicht umsonst bemerkt der spÀte Musil resignativ zum Hiat zwischen sei-
nem antihistoristischen Anspruch und dessen historischem Resultat : âDieses
Buch ist unter der Arbeit und unter der Hand ein historischer Roman gewor-
den, er spielt vor 25 Jahren !â (MoE 1941)
Wenn die postmoderne Kritik eine relative Evidenz- und Referenzlosigkeit
des Mann ohne Eigenschaften behauptet, dann zielt sie freilich in erster Linie
auf eine geschichtsphilosophisch grundierte Vorstellung auĂertextueller sozi-
101 Weiter heiĂt es da : âMein GedĂ€chtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind ĂŒberdies immer ver-
tauschbar.â (GW 7, 954) DemgemÀà versichert auch der ErzĂ€hler des Mann ohne Eigenschaften
in einer metafiktionalen Anmerkung, âdaĂ weder an dieser Stelle noch in der Folge der glaub-
wĂŒrdige Versuch unternommen werden wird, ein Historienbild zu malen und mit der Wirklich-
keit in Wettbewerb zu tretenâ (MoE 170).
102 Zur âdoppelten Zeitstrukturâ des Mann ohne Eigenschaften vgl. Blasberg : Krise und Utopie der
Intellektuellen, S. 8.
103 Vgl. Bachtin : Formen der Zeit im Roman, S. 7 : Der aus der Mathematik bzw. den Naturwis-
senschaften ĂŒbernommene Begriff des Chronotopos (âRaumzeitâ) wird hier als âgrundlegende[r]
wechselseitige[r] Zusammenhang der in der Literatur kĂŒnstlerisch erfaĂten Zeit-und-Raum-
Beziehungenâ definiert und âals eine Form-Inhalt-Kategorie der Literaturâ verwendet. Zur
komplizierten Problematik der âAneignung des realen historischen Chronotopos in der Litera-
turâ vgl. ebd., S. 8 f. Mehr dazu in Kap. II.1.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208