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34 Einleitung
aler Wirklichkeit. So konstatiert Bernd HĂŒppauf im Sinne einer Ăberwindung
der historischen Dialektik Hegels :
GegenĂŒber dieser zur Fiktion gewordenen TotalitĂ€t der Geschichte setzt Musil, Anti-
Hegelianer wie sein Lehrer Nietzsche, nicht allein die Ironie und Skepsis österrei-
chischer Tradition[,] sondern vor allem seinen âMöglichkeitssinnâ : die erzĂ€hlerische
Freiheit von den ZwÀngen der dialektischen Folgerichtigkeit gewinnt er aus der Hal-
tung des Mannes, der sich durch die Abwesenheit von Eigenschaften auszeichnet
und damit nicht durch die Differenzen charakterisiert ist, die sich das System [der
Dialektik, N. C. W.] durch Einebnung anverwandelt.104
Abgesehen von der Tatsache, dass dieser Argumentation eine eher verkĂŒrzte
Definition des Musilâschen Begriffs der âEigenschaftslosigkeitâ zugrunde
liegt105, bedeutet das Fehlen von dialektisch aufgeladenen Antagonismen auf
der Makroebene nicht zwingend die Abwesenheit von sozial aussagekrÀftigen
Differenzen ĂŒberhaupt. Solche Unterschiede zwischen den verschiedenen Fi-
guren sind im Mann ohne Eigenschaften vielmehr reichlich vorhanden, und die
Behauptung einer kompletten Differenzlosigkeit der darin erzÀhlten Welt ver-
mag ebenso wenig zu ĂŒberzeugen wie die umstandslose Gleichsetzung jeder
Form von Geschichtlichkeit mit der ĂŒberkommenen hegelianischen Vorstel-
lung von TotalitÀt.
Zwar ist die soziale Welt von Musils Roman tatsĂ€chlich ĂŒber weite Strecken
geprĂ€gt vom ausfĂŒhrlich diskutierten âPDUGâ, dem âPrinzip des unzureichen-
den Grundesâ (MoE 133 f.).106 Die von der Romanfigur Ulrich sarkastisch dia-
gnostizierte âallgemeine Vieldeutigkeitâ der modernen Welt wird aber keines-
wegs umstandslos affirmiert, sondern im Gegenteil bisweilen sogar skeptisch
einem âZeitabschnitt des ZurĂŒcksinkensâ zugeschrieben (MoE 379 f.) â ohne
dass deshalb die an anderer Stelle nicht nur vom ErzÀhler, sondern auch von
Ulrich selbst vertretene positivere Deutung des herrschenden âChaosâ (vgl.
etwa MoE 216 ; dazu GW 8, 1363) grundsÀtzlich desavouiert erscheinen
wĂŒrde. Das fortgeschrittene Bewusstsein von den âunzureichenden GrĂŒn-
denâ menschlicher Existenz, das Musil seinem Chronotopos Kakanien ein-
schreibt107, erhÀlt vielmehr einen vorsichtig positiven Beigeschmack, der von
weiteren Kontexten noch verstÀrkt wird : So handelt Musil bereits im (unten
104 So HĂŒppauf : Musil in Paris, S. 63.
105 Zu Musils Konzept der âEigenschaftslosigkeitâ vgl. Kap. I.3.1.
106 Genaueres dazu unten in Kap. I.3.2.
107 Mehr dazu in Kap. II.1.2.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208