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38 Einleitung
und funktional differenzierten Gesellschaften119, die den komplexen histo-
rischen Gegebenheiten kaum gerecht wird, auf heuristisch fruchtbare Weise
aufzubrechen, und verfehlen somit gerade deren subtile literarische Konzeptu-
alisierung durch Musil.120 Insbesondere fĂŒr die Analyse der umsichtig und viel-
schichtig konstruierten Romanfiguren auf der textuellen Mikroebene121 scheint
die makroskopisch idealtypische Schematik Luhmanns zu grob und unflexibel.
Nicht zuletzt deshalb stĂŒtzt sich die vorliegende Untersuchung auf einen
alternativen soziologischen Ansatz, welcher einerseits der im Roman verhan-
delten funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaft in relativ auto-
nome Teilbereiche gerecht wird, ohne aber andererseits die im ErzÀhlkosmos
nach wie vor sichtbare hierarchische bzw. stratifikatorische gesellschaftliche
Schichtung zu vernachlÀssigen ; einen Ansatz, welcher zwar ideologiekritische
Aspekte (im Sinne einer Korrespondenzanalyse des VerhÀltnisses von sozialer
Position und diskursiver sowie praxeologischer Positionsnahme in der erzÀhl-
ten Welt) zu berĂŒcksichtigen vermag, ohne jedoch gleich wieder in eine nor-
mative und teleologische Geschichtsphilosophie hegelianischer oder marxis-
tischer PrĂ€gung zurĂŒckzufallen, und der zugleich dem antiessenzialistischen,
relationalen und funktionalen Menschen- und Gesellschaftskonzept Musils
entspricht. Dieser Ansatz, eine literaturwissenschaftliche Adaptation der von
Pierre Bourdieu entwickelten soziologischen Feldtheorie122, verfÀhrt nicht auf
kommunikationstheoretischer, sondern auf handlungstheoretischer Grund-
lage und kommt damit den literaturwissenschaftlichen BedĂŒrfnissen entgegen.
Die Luhmannâsche Substitution der Handlungstheorie durch eine ihr nach-
geschaltete Kommunikationstheorie123 bietet unbestreitbare heuristische Vor-
119 Zur idealtypischen GegenĂŒberstellung stratifizierter vs. funktional differenzierter Gesellschaft
vgl. etwa Luhmann : Soziale Systeme, S. 261 : âBeim Primat hierarchischer Differenzierung sind
der Ausdifferenzierung dadurch Schranken gesetzt, daĂ die Spitze (oder das Herrschaftszen-
trum) der Hierarchie die Grenzbeziehungen des Systems muà kontrollieren können, weil sie
sonst die Herrschaft verliert. Bei stĂ€rkerer Ausdifferenzierung und komplexeren AuĂenbezie-
hungen wird das unmöglich, was den Ăbergang zu funktionaler Differenzierung erzwingt [?],
so wie umgekehrt ein Vorantreiben funktionaler Differenzierung die Ausdifferenzierung stei-
gert und die Herrschaftszentren depossediert.â
120 Vgl. dazu die Beobachtungen und Ăberlegungen im Abschnitt zu Leinsdorf aus Kap. II.2.1.
121 Vgl. dazu insbesondere Kap. II.2. u. II.3.
122 Mehr dazu in Kap. I.1.1.
123 Vgl. Luhmann : Soziale Systeme, S. 191â241, Zit. S. 193 : âSoziale Systeme werden [âŠ] nicht
aus Handlungen aufgebaut, so als ob diese Handlungen auf Grund der organisch-physischen
Konstitution des Menschen produziert werden und fĂŒr sich bestehen könnten ; sie werden in
Handlungen zerlegt und gewinnen durch diese Reduktion AnschluĂgrundlagen fĂŒr weitere
KommunikationsverlĂ€ufe.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208