Seite - 44 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 44 -
Text der Seite - 44 -
Teil I:
Grundlegung44
analyse mĂŒssen dabei teilweise aus verstreuten Bemerkungen Bourdieus ext-
rahiert werden, weil eine systematische methodologische Grundlegung bisher
nicht existiert und zahlreiche MissverstÀndnisse kursieren.
In einem ersten Analyseschritt liest Bourdieu die Ăducation sentimentale mit
seinem soziologischen Instrumentarium4 scheinbar analog zu der Weise, wie
er PhĂ€nomene der realen Gesellschaft analysiert. Daraus ergibt sich fĂŒr ihn
notwendig das Problem des literarischen RealitÀtsbezugs, mit anderen Wor-
ten : âdas Problem des âRealismusâ und des âReferentenââ im literarischen Dis-
kurs. Nach Bourdieu handelt es sich beim fiktionalen literarischen Text um ei-
nen âDiskurs, der von der (sozialen und psychologischen) Welt spricht, aber in
einer Weise, als wĂŒrde er nicht von ihr sprechen ; der von dieser Welt nur sprechen
kann, wenn er so spricht, als sprĂ€che er nicht darĂŒber, das heiĂt in einer Form,
die fĂŒr den Autor wie fĂŒr den Leser eine Verneinung [âŠ] â im Freudschen Sinn
â dessen vollzieht, was er zum Ausdruck bringtâ5. Die genaueren Implikati-
onen dieser psychoanalytischen Grundierung der fiktionalitÀtskonstitutiven
âAls-obâ-ModalitĂ€t werden noch zu erörtern sein.6 Wichtig ist im gegenwĂ€rti-
gen Kontext vor allem die Hypothese, dass das literarische Werk â bei Bour-
dieu der ârealistischeâ Roman Flauberts â âalle erforderlichen Instrumente zu
seiner eigenen soziologischen Analyseâ liefere7, dass also Flaubert in seinem
Text selbst eine implizite, aber durchaus schlĂŒssige Rekonstruktion seiner Zeit
und Gesellschaft vorgelegt habe, gewissermaĂen deren Soziologie in nuce.
Die wahrnehmungs- und darstellungslogische Voraussetzung einer solchen
analytischen Leistung der Literatur, die keineswegs als bloĂe âWiderspiege-
lungâ verstanden werden darf8, besteht nach Bourdieu im gegenseitigen Auf-
ein ander-abgestimmt-Sein von individuellem Habitus des Autors und sozia-
lem Feld, in dem er lebt und schreibt.9 Das Entstehen von darstellerischer
Evidenz beruht auf der âpraktische[n] Intuition des Habitus, der es uns in der
alltagspraktischen Erfahrung ermöglicht, die Verhaltensweisen der uns ver-
4 Mehr dazu im Abschnitt âDa capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyseâ aus
Kap. I.2.2.
5 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 20. Dies entspricht durchaus dem in der Auseinanderset-
zung mit John Searle und KĂ€te Hamburger ermittelten Befund von Genette : Fiktion und Dik-
tion, S. 93, wonach âjede Fiktion, nicht nur der Roman in der ersten Person, eine nicht-ernst-
hafte Simulation nicht fiktionaler Assertionen istâ bzw. âvon Wirklichkeitsaussagenâ.
6 Vgl. dazu den abschlieĂenden Teil III der vorliegenden Arbeit.
7 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 19.
8 Vgl. dagegen Köppe/Winko : Neuere Literaturtheorien, S. 198.
9 Vgl. Bourdieu/Wacquant : Reflexive Anthropologie, S. 160 f. Genaueres zu den Begriffen âHabi-
tusâ und âFeldâ findet sich in den Anmerkungen zum Schlussabschnitt von Kap. I.2.2 sowie in den
einschlÀgigen Analysekapiteln der vorliegenden Untersuchung.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208