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Teil I:
Grundlegung46
jedes absichtlichen BemĂŒhens um KohĂ€renz in objektivem Einklang miteinander und
fern jeder bewuĂten Abstimmung auch auf die Praxisformen aller ĂŒbrigen Angehöri-
gen derselben Klasse objektiv abgestimmt.16
Genau auf die Rekonstruktion einer solchen âgenerativen Formelâ einzelner
Figuren und gröĂerer Konstellationen richtet sich nun die sozioanalytische
Anstrengung. Ein entscheidender Vorteil dieser methodischen Herangehens-
weise ist die somit mögliche ErgÀnzung des bloà diskursiven Augenmerks der
meisten bisherigen Untersuchungen des Mann ohne Eigenschaften durch eine
Art soziologischer Korrespondenzanalyse, die auch die prÀreflexive Dimen-
sion der romanesken Handlung miteinbezieht : Die einzelnen Haltungen, Aus-
sagen und Aktionen der Romanfiguren erscheinen durch eine systematische
Relationierung mit deren spezifischen sozialen Positionen im Romankosmos
und mit ihrer habituellen Ausstattung perspektiviert, ja im eigentlichen Wort-
sinn relativiert, also in Beziehung gesetzt und somit auch erzÀhllogisch moti-
viert.17
Einen â zumindest partiellen â Ăberblick und damit die Möglichkeit, un-
terschiedliche Einzelperspektiven wechselweise einzunehmen, hat der arran-
gierende ErzÀhler, der in einer strukturellen Analogie zum objektivierenden
Wissenschaftler steht. âDie unmittelbare Vereinbarkeit aller gesellschaftlichen
Positionen, die im Alltagsleben nicht gleichzeitig, nicht einmal nacheinander
eingenommen werden können, zwischen denen wohl oder ĂŒbel gewĂ€hlt wer-
den muĂ, durch die man, ob man will oder nicht, gewĂ€hlt wird : allein in der
und durch die literarische Schöpfung ist sie lebbar.â18 Hier liegen die schöpfe-
rischen Potenzen der Literatur im Sinne des Musilâschen âMöglichkeitssinnsâ
begrĂŒndet, denn hier â und nur hier â gilt : âSchreiben setzt alle Determinie-
rungen, alle grundlegenden ZwÀnge und BeschrÀnkungen des gesellschaftli-
chen Daseins auĂer Kraft.â19 Mit Blick auf Flauberts kĂŒnstliche Welten vertritt
Bourdieu die
Annahme, daĂ die Arbeit des Schreibens [âŠ] zunĂ€chst darauf abzielt, die unkontrol-
lierten Effekte der ambivalenten Beziehung zu all den im Macht-Feld Kreisenden in
die Gewalt zu bekommen. Diese Ambivalenz, die Flaubert mit Frédéric gemein hat
(in dem er sie objektive Gestalt gewinnen lĂ€Ăt) und die bewirkt, daĂ er sich nie mit
16 Bourdieu : Die feinen Unterschiede, S. 281 ; vgl. ders.: Sozialer Sinn, S. 98.
17 Vgl. auch die diesbezĂŒglichen Ăberlegungen im Kap. II.1.3.
18 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 57.
19 Ebd., S. 58.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208