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Teil I:
Grundlegung48
herkömmlichem Biografismus gemein hat24, beschrÀnkt sich keineswegs auf
den Bereich der Literatur. Es handelt sich vielmehr um eine allgemeine Art
der soziologischen Analyse, die â in begrifflicher und konzeptioneller Anleh-
nung an entsprechende Aspekte der Psychoanalyse â das Subjekt der wissen-
schaftlichen Objektivierung in ihrer Erforschung eines sozialen GefĂŒges nicht
ausklammert, sondern als Determinante der Untersuchung systematisch mit-
einbezieht. Das bedeutet, dass âmit der fĂŒr die wissenschaftliche Objektivie-
rung erforderlichen Arbeit immer auch eine Arbeit â im psychoanalytischen
Sinne â ĂŒber das Subjekt der Objektivierung einhergehtâ25. Dieses zunĂ€chst
Freudâsche Konzept hat der Ethnologe Georges Devereux im Rahmen seines
ethnopsychoanalytischen Ansatzes in die Sozialwissenschaften eingefĂŒhrt.26
Bourdieu weitete es auf nichtinteraktive, weil historisch abgeschlossene For-
24 Vgl. dagegen Pars pro Toto Beilein : Ein erweitertes Feld, S. 4 ; mehr dazu unten in Kap. III.2.
Zum Problem des âBiografismusâ generell vgl. Kindt/MĂŒller : Was war eigentlich der Biographis-
mus, insbesondere das Fazit, wo mit âBlick auf die Themenkarriereâ in der neueren Literatur-
wissenschaft empfohlen wird, âden Begriff ausdrĂŒcklich fĂŒr miĂbrĂ€uchliche Anwendungen des
biographischen Prinzips zu reservieren. Anders als in einigen der entsprechenden Abgrenzun-
gen des ausgehenden 19. Jahrhunderts lassen sich Anwendungen allerdings nicht bereits dann
als âmiĂbrĂ€uchlichâ qualifizieren, wenn sie einer Interpretationskonzeption verpflichtet sind,
nach der Texte im RĂŒckgriff auf die Biographien ihrer Verfasser zu erklĂ€ren sind [âŠ]. Als âmiĂ-
brĂ€uchlichâ und also âbiographistischâ sollten [âŠ] nur solche Anwendungen des biographischen
Prinzips charakterisiert werden, die isolierte Teile von Werken auf das Leben ihrer Verfasser
zurĂŒckfĂŒhren, ohne die Relevanz solcher VerknĂŒpfungen fĂŒr die Konzeption und integrative
Deutung des Werks auszuweisen.â (S. 374 f.)
25 Bourdieu/Wacquant : Reflexive Anthropologie, S. 95. Mit seinem Hinweis auf das psychoana-
lytische Postulat der notwendigen Arbeit âĂŒber das Subjekt der Objektivierungâ zielt Bourdieu
wohl vor allem auf das PhĂ€nomen der âGegenĂŒbertragungâ, womit die âGesamtheit der unbe-
wuĂten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und ganz besonders auf
dessen Ăbertragungâ gemeint ist und woraus sich âfĂŒr den Analytiker die Notwendigkeitâ ergibt,
sich selbst âeiner persönlichen Analyse zu unterziehenâ. Zit. nach Laplanche/Pontalis : Das Vo-
kabular der Psychoanalyse, S. 164.
26 Vgl. Devereux : Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, passim, bes. S. 17â22 : De-
vereuxâ Ethnopsychoanalyse adaptiert Freuds Konzept von âĂbertragungâ und â wichtiger noch
â âGegenĂŒbertragungâ insofern fĂŒr die Sozialwissenschaften, als sie das âklassischeâ methodolo-
gische Prinzip der wissenschaftlichen Beobachtung von einem strikt objektiven Standpunkt aus
als illusionĂ€r, ja als kontraproduktiv entlarvt, weil es die âverzerrendenâ Auswirkungen des unter-
suchenden Subjekts auf den untersuchten Objektbereich ĂŒbersehe. Anstelle eines solchen âna-
ivenâ Objektivismus mĂŒsse sich der Beobachter in den Untersuchungsprozess hineinversetzen
und berĂŒcksichtigen, dass das, was er beobachte, immer von seiner eigenen BeobachtertĂ€tigkeit
beeinflusst werde. Die einzelnen Wahrnehmungen, die der Beobachter macht, sind demnach
stets seine eigenen Reaktionen auf die Reaktionen, die er selbst auslöst. Um dieser komplexen
Situation gerecht zu werden, habe er seine Beziehung zum Beobachteten nach dem Muster der
Beziehung des Psychoanalytikers zu seinem Analysanden zu konzeptualisieren.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208