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Grundlagen der Untersuchung 51
Auslösung eines Glaubenseffektes bei den Lesern, der somit an die Stelle des
Barthesâschen âRealitĂ€tseffektesâ38 rĂŒckt, zu verstehen ? Der Roman, meint
Bourdieu, sei der von ihren GegenstÀnden abstrahierenden wissenschaftlichen
Analyse dadurch ĂŒberlegen, dass er das Dargestellte âsehen und empfindenâ
lasse, dass er die erzĂ€hlte Welt âin Exemplifizierungen oder, besser, in Evokatio-
nen im Sinne von Beschwörungenâ39 vorfĂŒhre :
Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet : nichts
belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die gesamte KomplexitÀt einer
Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mĂŒhsam auseinanderfal-
ten und entwickeln muĂ, in der konkreten SingularitĂ€t einer sinnlichen wie sinnlich
erfaĂbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher
und Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten.40
Eine Voraussetzung dafĂŒr ist freilich die konzeptionelle Aufgabe, im Roman
keine âblutleerenâ Gestalten vorzufĂŒhren, die bloĂ als papierene Stellvertre-
ter gedanklicher Konzepte wirken.41 Die Romanfiguren mĂŒssen vielmehr mit
möglicht sicher das Zutagetreten der profundesten, der bestkaschiertesten Wahrheit [âŠ], weil
sie den Schleier bildet, der es dem Autor wie dem Leser erlaubt, das Wirkliche den anderen und
sich zu verbergen.â Zu den problematischen Kategorien âWahrheitâ und âWirklichkeitâ vgl. die
kursorische Bemerkung unten. Das Problem der kĂŒnstlerischen Form(gebung) und âVerschleie-
rungâ nach Bourdieu wĂ€re mit Blick auf die âPolysemieâ von Literatur grundsĂ€tzlich zu diskutie-
ren.
38 Vgl. Barthes : Der Wirklichkeitseffekt ; dazu auch SĂ©ginger : Flaubert contre Flaubert, S. 93. Ein
Vorteil des Bourdieuâschen âGlaubenseffektesâ liegt darin, dass das Konzept im Unterschied zum
Barthesâschen âRealitĂ€tseffektâ nicht allein auf im engeren Sinn realistische Literatur anwendbar
ist.
39 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 66.
40 Ebd., S. 53. Der Roman aktualisiert damit ein Vermögen, das Bourdieu in einem GesprÀch mit
dem KĂŒnstler Hans Haacke der Kunst generell attestiert ; vgl. Bourdieu/Haacke : Freier Aus-
tausch, S. 34 : âDer KĂŒnstler ist derjenige, der [âŠ] Analysen, die den Leser oder Zuschauer
durch die Strenge des Begriffs und der BeweisfĂŒhrung gleichgĂŒltig lassen, in die SphĂ€re der
Empfindung ĂŒbertrĂ€gt, wo die SensibilitĂ€t und die GefĂŒhle hausen.â Diese Formulierung ist al-
lerdings nicht ganz glĂŒcklich, suggeriert sie doch unfreiwillig, dass die kĂŒnstlerisch erarbeiteten
Analysen bloĂ Ăbertragungen von bereits âfertigenâ Erkenntnissen aus der Wissenschaft sind.
41 Damit sei keineswegs die recht banale Einsicht negiert, dass âErzĂ€hler und Protagonistenâ eines
ErzĂ€hltextes âihrer Natur nach âWesen aus Papierââ sind, wie Barthes : EinfĂŒhrung in die struk-
turale Analyse von ErzĂ€hlungen, S. 126, gegenĂŒber jenen naiven Herangehensweisen betont,
welche literarisch produzierte und inszenierte Geschehnisse bzw. Handlungen (histoire) wie
lebensweltliche Vorkommnisse behandeln. Vgl. auch StĂŒckrath : Figur und Handlung, S. 41 : âLi-
terarische Figuren bestehen aus Wörtern und SÀtzen. Sie referieren nicht auf konkrete Personen
aus Fleisch und Blut.â Die PlausibilitĂ€t, Evidenz und Suggestion literarischer Figuren wird be-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208