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Teil I:
Grundlegung52
bestimmten habituellen Kennzeichen ausgestattet werden, um erzÀhlerisch
glaubhaft zu sein und âzugleich als Metapher und Metonymieâ allgemeine-
rer sozialer VerhÀltnisse fungieren zu können. Der ErzÀhler ordnet ihnen
also jeweils bestimmte körperliche Merkmale, eine individuelle Herkunft und
Geschichte, persönliche Umgangs- und Ausdrucksformen, soziale und öko-
nomische Verhaltensweisen, Denkgewohnheiten, politische PrÀferenzen und
geschmackliche Vorlieben zu, stimmt diese Zuordnungen aufeinander ab und
formt sie zu einem mehr impliziten als expliziten Gesamtbild, das auf eine
ihm zumindest scheinbar zugrunde liegende, einheitsstiftende âgenerative For-
melâ â eben den somit erst konstruierten Habitus â verweist.42 Die solcherart
bewirkte narrative Konzentration und Verdichtung vermag bei der LektĂŒre
eine âbeschwörende Magieâ zu entfesseln, vermag âzur SensibilitĂ€t zu spre-
chenâ und âeinen Glauben und eine imaginĂ€re Teilhabe zu erwirkenâ, also
bei den Lesern und Leserinnen Wirkungen auszulösen, die Bourdieu zufolge
âanalog jenenâ Suggestionen funktionieren, âdie wir gewöhnlich der realen
Welt zubilligenâ.43 Die âinduzierenden Wörterâ fungieren demnach gleichsam
als âelektrische âLeiterââ, aber auch mehr oder minder als âundurchsichtige
Filterâ.44 Mit Blick auf Flaubert versucht Bourdieu, diesen Gedanken zu prĂ€-
zisieren :
kanntlich nicht durch eine wie immer geartete Referenz nach âauĂenâ, sondern allererst auf den
Ebenen der ErzĂ€hlung (rĂ©cit bzw. discours) und Narration (narration) bewirkt. Dies schlieĂt eine
in der fiktionalen Konzeption angelegte und im Prozess der LektĂŒre aktualisierte Strukturhomo-
logie zwischen den Signifikaten textuell erzeugter Welt und den empirischen Referenten ârealerâ
Welt aber nicht aus, zumal mittlerweile auch von evolutionspsychologischer Seite angenommen
wird, dass das âSchicksal literarischer Figurenâ deshalb die Leser(innen) âbewegtâ, âweil unsere
emotionalen Dispositionen auf die Vorstellungen, die der Text in unserem Geist hervorruft, ge-
nauso reagiert [sic] wie auf [âŠ] kĂŒnstliche oder natĂŒrliche âAttrappenââ (Mellmann : Literatur als
emotionale Attrappe, S. 159). Die LektĂŒre literarischer Texte löst bei den Rezipienten demnach
Vorstellungen aus, die ihrerseits kulturell geprÀgte Emotionsprogramme in Gang setzen, welche
nach spezifischen Regeln ablaufen (vgl. ebd., S. 156â166). Der evolutionspsychologische Ansatz,
der zu Naturalisierungen kultureller PhÀnomene neigt, ist mit dem in der vorliegenden Arbeit
vertretenen freilich nur recht eingeschrÀnkt kompatibel.
42 Die Arbeitshypothese einer (in Analogie zu Bourdieus Habituskonzept) den einzelnen literari-
schen FigurenĂ€uĂerungen und -handlungen zugrunde liegenden âgenerativen Formelâ erlaubt
es, die leidige erzĂ€hltheoretische âAlternative zwischen einer Auffassung von Figur als Netzwerk
von Signifikanten und der Figur als realer Personâ zu umgehen, ohne die Analyse ausschlieĂlich
auf die explizit âin der Darstellung vergebenen Informationenâ zu beschrĂ€nken oder aber âein
realistisches Substrat [zu] unterstellenâ, das âdie FĂŒlle an historischer DiversitĂ€t in der Figuren-
gestaltung auf ein einziges Grundmusterâ anthropologischer Art reduzierte : so die Ăbersicht der
gÀngigen narratologischen Positionen in Jannidis : Figur und Person, S. 170 f.
43 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 66.
44 Ebd., S. 20.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208