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Grundlagen der Untersuchung 57
Formgebung bedeutet auch Beachtung der Formen, und die durch den literarischen
Ausdruck vollzogene Verneinung erlaubt die begrenzte ĂuĂerung einer Wahrheit, die
anders gesagt untragbar wĂ€re. Der âRealitĂ€tseffektâ ist jene sehr spezifische Form von
Glauben, die die literarische Fiktion produziert vermittels eines verleugneten Bezugs
zum bezeichneten Realen, der zu wissen erlaubt, zugleich aber ablehnt zu wissen,
was es wirklich damit auf sich hat.60
Ohne Bourdieus in diesem Kontext gezeigte Emphase in Bezug auf âWirklich-
keitâ und âWahrheitâ des Textes61 â die in auffallendem Kontrast steht zu seinen
andernorts gemachten Beobachtungen ĂŒber die soziale Konstruiertheit gerade
dieser Kategorien62 â uneingeschrĂ€nkt zu teilen63, geht es im Folgenden doch
auch um die âObjektivierungâ der dem Mann ohne Eigenschaften zugrunde lie-
genden âromanesken Illusion und vor allem des VerhĂ€ltnisses zur sogenann-
ten realen Welt, die sie voraussetztâ.64 Die dabei verfolgte Zielsetzung ist eine
doppelte : Neben der zentralen Absicht, Musils groĂen Roman mithilfe einer
innovativen Analysemethode neu zu erschlieĂen, soll am Beispiel eines ka-
nonischen deutschsprachigen ErzĂ€hltextes die Bourdieuâsche Sozioanalyse
literarischer Werke exemplarisch angewendet und auf ihre Möglichkeiten
und Grenzen ĂŒberprĂŒft werden (wobei die Möglichkeiten der Methode zu-
zuschreiben sind, wĂ€hrend fĂŒr die Grenzen wohl in erster Linie der Verfasser
dieser Studie verantwortlich zeichnet). Angestrebt wird somit auch eine Ant-
60 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 67.
61 Vgl. ebd.: âDie soziologische LektĂŒre bricht den Zauber. Indem sie das geheime EinverstĂ€ndnis
aufhebt, das Autor und Leser in der gleichen Beziehung der Verleugnung der durch den Text
zum Ausdruck gebrachten RealitĂ€t vereint, offenbart sie die Wahrheit, die der Text zwar Ă€uĂert,
aber auf eine sie wieder nicht Ă€uĂernde Weise ; zudem bringt sie a contrario die Wahrheit des
Textes selbst zum Vorschein, dessen Besonderheit sich gerade dadurch auszeichnet, daĂ er das,
was er sagt, nicht so sagt wie die soziologische LektĂŒre.â
62 Vgl. ebd., S. 466 f.: âWenn es eine Wahrheit gibt, so die, daĂ um die Wahrheit gekĂ€mpft wird ;
und obgleich die auseinandergehenden oder einander entgegengesetzten Klassifizierungen oder
Urteile der Akteure des Kunst-Feldes [bzw. des wissenschaftlichen Feldes, N. C. W.] durch spezi-
fische, an Positionen im Feld, Standpunkte gebundene Dispositionen und Interessen unbestreitbar
determiniert oder orientiert sind, werden sie im Namen des Anspruchs auf UniversalitÀt, auf abso-
lute GĂŒltigkeit verfochten â in direkter Negation der RelativitĂ€t bloĂer Standpunkte.â
63 In die hier angedeutete Richtung zielt auch die Kritik von SĂ©ginger : Flaubert contre Flaubert,
S. 94, die allerdings nur in weitgehender Ignoranz von Bourdieus relationistischer und konstruk-
tivistischer wissenschaftstheoretischer Position behaupten kann, âque le modĂšle hermĂ©neutique
du sociologue se construit par référence à un modÚle philosophique qui est celui du vieux dua-
lisme nĂ©oplatonicien [âŠ] â mais rabat la transcendance du monde des idĂ©es et de la vĂ©ritĂ© sur la
profondeur du social.â
64 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 69.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208