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Grundlagen der Untersuchung 61
zu befragen â unabhĂ€ngig davon, ob diese nun der bewussten Absicht ei-
nes reflektierenden Autors entsprechen, seiner vielleicht weniger bewussten
Ideologie oder der Eigendynamik textueller Konstellationen. Die textuellen
Konstellationen aber sind es, die die Struktur des literarischen Textes ausma-
chen, und sie haben â da es darin in der Regel um Menschen (oder anthro-
pomorphe Wesen) geht â nicht allein eine textuelle, sondern auch eine soziale
Dimension (wenngleich eben im Medium des Textes). Genauso wie die âre-
aleâ Geschichte seit dem 11. September 2001 die nach dem Fall des Eisernen
Vorhangs proliferierenden philosophischen Prophetien einer anbrechenden
Posthistorie als voreilige (und zudem reichlich naive) akademische Illusion er-
scheinen lieĂ, zeigen sich literarische Werke als textuelle Gebilde auch dann
von konstitutiven internen Oppositionen strukturiert, wenn die gÀngigen poli-
tischen Deutungsmuster dieser Oppositionen nicht mehr greifen.
Und dies ist hier von entscheidender Bedeutung, denn Bourdieu geht es gar
nicht um âauthentischesâ Klassenbewusstsein und um die Opposition politischer
IdentitĂ€ten, deren Erosion laut Pfeiffer das Objekt der subtilen Flaubertâschen
ErzÀhlkunst darstellt. Viel zentraler als hohle politische Phrasen und konfligie-
rende Deklamationen, die in der Sozioanalyse der Ăducation sentimentale kaum
begegnen, sind darin die körperliche Hexis und Gestik des Romanpersonals,
sind die inkorporierten Eigenschaften wie das Auftreten und die persönlichen
Umgangsformen der Figuren, ihre unbewussten sozialen Verhaltensweisen,
ihre Herzensangelegenheiten und Liebesbeziehungen, ihre Selbstwahrneh-
mung, ihr Ă€sthetischer und kulinarischer Geschmack, ihre Vorliebe fĂŒr be-
stimmte GebrauchsgegenstÀnde des tÀglichen Lebens oder ihre charakteris-
tischen Idiosynkrasien, kurz : ihr habitueller Stil in seiner Gesamtheit.78 Daran
entwickelt Bourdieu sein Projekt einer sozioanalytischen LektĂŒre literarischer
Texte, nicht an den phrasenhaften Formeln einer ĂŒberkommenen Geschichts-
philosophie, und die mittlerweile wohlfeilen EinwÀnde gegen diese sind kaum
dazu angetan, es zu erschĂŒttern.
78 Vgl. dazu etwa Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 130. Gerade Aspekte wie unfreiwil-
lige Tics, Reflexe und Gewohnheiten, die Martens allerdings allein in narratologischer Hinsicht
diskutiert, sind in den bisher vorgelegten Analysen des Mann ohne Eigenschaften zu kurz gekom-
men, weshalb die Adaptation der Bourdieuâschen Sozioanalyse hier neue Einsichten verspricht.
FĂŒr Musil handelt es sich bei âgesellschaftliche[m] Milieu, Kleidung, Haltung und Sprechweiseâ
nur scheinbar um âbloĂe ĂuĂerlichkeitenâ, wie Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 33,
etwas vorschnell behauptet. Nicht bloĂ in den narrativen Passagen seines groĂen Romans, son-
dern auch in verschiedenen Essays und in seiner Kurzprosa legt er den eminent zeit- und kul-
turdiagnostischen Wert solcher unscheinbaren Details offen â sonst hĂ€tte er im Ăbrigen auf die
erzÀhlerische Ausgestaltung der essayistischen Passagen ganz verzichten können ; mehr dazu
unten.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208