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69Grundlagen
der Poetik Musils
Typus Mensch [âŠ], und ferner so tut, als gĂ€be es da einen Auf- und Abstieg [âŠ],
und es wĂ€re da etwas aufgeblĂŒht und verwelkt, nicht bloĂ eine Entfaltung, sondern
ein Wesen, das sich entfalte, eine Menschenart, eine Rasse, eine Gesellschaft, ein real
wirkender Geist, ein Mysterium,
â eine solche Betrachtungsweise beruhe auf einer unhaltbaren âHypotheseâ
(GW 8, 1079). Wie die angefĂŒhrten Beispiele nahelegen, hat Musil bei seiner
Argumentation gegen essenzialistische und organizistische geschichtsphiloso-
phische Typologien nicht allein die zeitgenössische akademische Geschichts-
wissenschaft im Blick, sondern ebenso die damals proliferierende, pseudo-
wissenschaftliche âweltanschaulicheâ Essayistik, die sich â wie etwa Oswald
Spengler â der gewagtesten geschichtsphilosophischen und typologischen
Konstrukte bediente. Insofern sind die in der Folge entwickelten Thesen Mu-
sils zur anthropologischen Natur immer auch vor dem negativen Hintergrund
der wissenschaftlichen Strömungen und auĂerwissenschaftlichen Ideologien
zu sehen, die er vehement bekÀmpfte.15 Auffallend ist dabei die betonte Unbe-
stimmtheit seiner Wesensdefinition des Menschen, die er den selbstgewissen
Ideologen des mit sich selbst Identischen entgegenhÀlt :
Die Psychologie zeigt, daĂ die PhĂ€nomene vom ĂŒbernormalen bis zum unternor-
malen Menschen stetig und ohne Sprung sich aneinanderbreiten[16], und die Erfah-
rung des Kriegs hat es in einem ungeheuren Massenexperiment[17] allen bestÀtigt,
daĂ der Mensch sich leicht zu den Ă€uĂersten Extremen und wieder zurĂŒck bewegen
kann, ohne sich im Wesen zu Àndern. Er Àndert sich, aber er Àndert nicht sich. (GW
8, 1080)
Die hier angesprochenen extremen Unterschiede menschlicher Verhaltens-
weisen machen deutlich, dass bei Musil von einer ahistorischen Stillstellung
der Historie nicht die Rede sein kann.18 Indem sich Menschen in verschie-
15 Hinsichtlich ideologischer Instrumentalisierungen und Umfunktionierungen der auch von Musil
vertretenen Gestalttheorie vgl. die instruktive Darstellung von Vatan : Musil et la question anth-
ropologique, S. 211â245.
16 Das PhĂ€nomen der âgleitendenâ ĂbergĂ€nge zwischen dem âNormalenâ und dem âPathologi-
schenâ wird im Mann ohne Eigenschaften vor allem anhand der Moosbrugger-Figur exemplifi-
ziert ; vgl. dazu Wolf : Warum Moosbrugger nicht erzĂ€hlt, S. 338â340.
17 Der prekĂ€re Begriff des âMassenexperimentsâ im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg
begegnet ĂŒbrigens wiederholt bei Musils psychologischem GewĂ€hrsmann Kretschmer : Medizi-
nische Psychologie, S. 115 u. 186.
18 Vgl. dagegen Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 114 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208