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72 Teil I: Grundlegung
Hier noch generell von einer enthistorisierenden und ontologisierenden An-
thropologie zu sprechen, scheint kaum ernsthaft vertretbar. Musil argumen-
tiert im Gegenteil dermaĂen analog zu den zeitgenössischen Sozialwissen-
schaften, dass er sich von einem soziologistischen Determinismus abgrenzen
zu mĂŒssen glaubt :
Man darf es natĂŒrlich nicht gleich im Sinn einer alles andere ausschlieĂenden Milieu-
theorie deuten : aber die AbhĂ€ngigkeit des Menschen von den EinflĂŒssen seiner Um-
gebung ist auĂerordentlich groĂ. Ich persönlich glaube, daĂ nur wenige Determinan-
ten in ihm selbst liegen, und es ist nicht möglich, sie heute schon befriedigend heraus
zu lösen. (GW 8, 1373)
Schon zuvor hatte Musil in der damals ĂŒblichen Terminologie, aber mit aller
wĂŒnschenswerten Eindeutigkeit festgehalten : âIch glaube nicht an den Unter-
schied des deutschen Menschen vom Neger. [âŠ] Die Begriffe Rasse, Nation,
Volk, Kultur enthalten Fragen und nicht Antworten, sie sind nicht soziologi-
sche Elemente, sondern komplexe Ergebnisse.â (GW 8, 1364)22 Zwar seien
die Unterschiede der Körperphysiognomien in ihren extremen AusprĂ€gungen kraĂ,
rassenbestÀndige Skelettmerkmale haben sich aber nicht nachweisen lassen, und die
vergleichende Psychologie ergiebt [sic] mehr Ăbereinstimmung als Verschiedenheit
in den Eigenschaften, welche fĂŒr die seelische Leistung wirklich konstitutiv sind. Die
Rassen-âTheorienâ, die in praktischen und populĂ€rwissenschaftlichen Gebilden der
Gegenwart eine so groĂe und verhĂ€ngnisvolle Rolle spielen, werden von den Wis-
senschaften, in deren Gebiet dies schlĂ€gt, sowohl als unbegrĂŒndet wie unbegrĂŒndend
abgelehnt. / Wenn aber zur ErklÀrung der in die Augen fallenden Unterschiede zwi-
schen zwei Völkern die Vererbung nur eine sehr unzulÀngliche Hilfe gewÀhrt, so kann
der Unterschied nur ein im weitesten Sinn sozialer sein. (GW 8, 1366)23
Auch im Essay Das hilflose Europa veranschlagt Musil den anthropologi-
schen Unterschied zwischen âdem gotischen Menschen oder dem anti-
ken Griechenâ und dem âmodernen Zivilisationsmenschenâ relativ gering
22 In auffallender Insistenz wiederholt Musil, dass er ânicht an den deutschen Menschen als etwas
glaube, zu glauben vermag, das wesentlich verschieden etwa vom amerikanischen Menschen
oder vom Neger wĂ€reâ (GW 8, 1365).
23 Zu Musils Ablehnung der Rassentheorie vgl. bereits den Essay Die Nation als Ideal und als Wirk-
lichkeit (GW 8, 1063â1065), in dem es ĂŒberdies schon heiĂt : âDie einzelnen Menschen sind,
wenn man auf die Ăbertreibungen der Rassenidee verzichtet, in den verschiedenen Staaten
einander nahezu gleichâ (GW 8, 1066).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208