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77Grundlagen
der Poetik Musils
den wÀren. In modifizierter Weise begegnen entsprechende Gedankenfiguren
noch im Mann ohne Eigenschaften :
Ungemein viele Menschen fĂŒhlen sich heute in bedauerlichem Gegensatz stehen zu
ungemein viel anderen Menschen. Es ist ein Grundzug der Kultur, daĂ der Mensch
dem auĂerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste miĂtraut, also
daĂ nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein FuĂballspieler einen Kla-
vierspieler fĂŒr ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hĂ€lt. SchlieĂlich besteht
ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaĂen feind-
seligen Akt gegen seine Umgebung ; ohne den Papst hÀtte es keinen Luther gege-
ben und ohne die Heiden keinen Papst, darum ist es nicht von der Hand zu weisen,
daĂ die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen in dessen Ableh-
nung besteht. Das dachte er [Ulrich, N. C. W.] natĂŒrlich nicht so ausfĂŒhrlich ; aber er
kannte diesen Zustand einer ungewissen, atmosphÀrischen Feindseligkeit, von dem
in unserem Menschenalter die Luft voll ist, und wenn sich das einmal plötzlich in drei
unbekannten, nachher wieder auf ewig verschwindenden MĂ€nnern zusammenzieht,
um wie Donner und Blitz auszuschlagen, so ist das fast eine Erleichterung. (MoE 26)
Folgt man dieser Diagnose, dann bildet die allgemeine âatmosphĂ€rische Feind-
seligkeitâ gewissermaĂen ein ahistorisches Grundgesetz menschlicher Inter-
aktion, das historisch distinkte soziale Praktiken erst hervorbringt. Immerhin
kann in Musils Hinweis auf die antagonistische Logik kultureller Evolution
eine partielle Analogie zur impliziten Dialektik sozialer Distinktion im Sinne
Bourdieus gesehen werden. Die Analogisierung sollte aber nicht zu weit ge-
trieben werden, weil sie die Differenz zwischen Musils latent existenzialisti-
scher oder gar sozialdarwinistischer Vorstellung und Bourdieus soziologischer
Machttheorie unterschlÀgt. Man wird mit einer Inkonsequenz, ja mit einem
ontologisierenden Rest in Musils ânegativerâ Anthropologie leben mĂŒssen,
wenngleich er in einem âsehr bezeichnende[n] Symptom der Katastropheâ
von 1914 wiederum den geschichtlichen âAusdruck einer bestimmten ideo-
logischen Lageâ zu erkennen glaubt : Die Rede ist vom âvöllige[n] GewĂ€h-
renlassen gegenĂŒber den an der Staatsmaschinerie stehenden Gruppen von
Spezialisten, so daĂ man wie im Schlafwagen fuhr und erst durch den Zusam-
menstoĂ erwachteâ (GW 8, 1089). Musil wirft seinen Blick wiederum auf die
strukturellen Voraussetzungen historischer Ereignisse :
So lag auch in der Art, wie die Welt auf den Krieg zutrieb, vor allem ein Mangel
an geistiger Organisation ; das Nichternstnehmen der Anzeichen und hintreibenden
KrÀfte, ebenso wie auch der gegenwirkenden KrÀfte ging aus einer Situation hervor,
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208