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78 Teil I: Grundlegung
wo ideologische Fragen in ihrer Unordnung und Windigkeit fĂŒr âschöngeistigâ galten,
wĂ€hrend die realpolitischen MĂ€chte wenigstens eine gewisse bĂŒrgerliche RechtsfĂ€-
higkeit vor ihnen voraushatten. (GW 8, 1089)
FĂŒr die Makrostruktur seiner essayistischen BeweisfĂŒhrung (wie auch fĂŒr
die ErzĂ€hlstruktur des Romans, die eben dieses blinde âGewĂ€hrenlassenâ
veranschaulichen soll) ist die punktuelle Inkongruenz in theoreticis nicht von
entscheidender Bedeutung. Musil kehrt argumentativ wieder zu einer sozio-
logisch fundierten Zukunftsperspektive zurĂŒck ; angesichts der seinerzeit all-
gegenwĂ€rtigen humanistisch-idealistischen âForderung von mehr Verantwor-
tung, GĂŒte, Christentum, Menschlichkeitâ, kurz nach âirgend einem Mehr von
dem, was vorher zu wenig warâ, erklĂ€rt er selbst nĂŒchtern zur Katastrophe des
Ersten Weltkriegs :
[E]s fehlte nicht an der IdealitĂ€t, sondern schon an den Vorbedingungen fĂŒr sie.
Dies ist nach meinem Glauben die Erkenntnis, welche sich unsere Zeit einbrennen
mĂŒĂte ! Die Lösung liegt weder im Warten auf eine neue Ideologie, noch im Kampf
der einander heute bestreitenden, sondern in der Schaffung gesellschaftlicher Bedin-
gungen, unter denen ideologische BemĂŒhungen ĂŒberhaupt StabilitĂ€t und Tiefgang
haben. Es fehlt uns an der Funktion, nicht an Inhalten ! (GW 8, 1091)
Der Hinweis auf die unabdingbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen der
Möglichkeit sinnvoller geistiger Arbeit bestÀtigt, dass Musils gesellschaftspo-
litische Reflexion von einem fundamentalen âtranszendentalsoziologischenâ
Apriori geprĂ€gt ist.34 Seine ânegativeâ Anthropologie kongruiert insofern zu-
mindest in dieser Hinsicht mit Bourdieus epistemologischen PrÀmissen.35
Deutlich wird dies etwa in der RĂŒckbindung des Erfolgs ideeller Bestrebun-
gen an manifeste materielle Interessen, die der Essay Die Nation als Ideal und
als Wirklichkeit vornimmt : So ist sich Musil in auĂenpolitischer Hinsicht be-
wusst, âdaĂ ĂŒberall dort, wo internationale Verbindungen sich zur Bedeutung
durchkĂ€mpfen, schwerste materielle Interessen hinter ihnen stehen, und daĂ
jede Organisation, da sie groĂer Mittel bedarf, auch nur dort zustande kom-
men kann, wo ein groĂer materieller Erfolg im Spiel stehtâ. Auch im âBlick
auf die innere Politikâ sei zu beobachten, âwie alles Ideelle nicht geht, wie nur
34 Die feldtheoretischen Bedingungen der Möglichkeit von Musils Anthropologie der âGestaltlo-
sigkeitâ werden in Kap. III.1.1 diskutiert.
35 Vgl. etwa Bourdieu : Die feinen Unterschiede, S. 17 ; Bourdieu/Wacquant : Reflexive Anthropo-
logie, S. 74.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208