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84 Teil I: Grundlegung
gestellte Beobachtung, dass Der Mann ohne Eigenschaften âeinen vollstĂ€ndigen,
selbstkonsistenten geistigen Mikrokosmosâ entwerfe, âein ĂŒberaus komplexes
Simulationsmodell der geistigen Situation der damaligen Zeitâ.50 Der experi-
mentelle Charakter dieser intellektuellen Simulation klingt in der Formulie-
rung bereits an.
Trotz des vordringlichen Interesses am âGeistigenâ tritt das soziologische
Interesse des Autors nicht in den Hintergrund : Wie aus den nachgelassenen
Notizen zu Der deutsche Mensch als Symptom hervorgeht, strebt Musil mit sei-
nem Gestaltlosigkeitstheorem, das er dem entstehenden Roman zugrunde
legt, ausdrĂŒcklich âdie soziologische Analyse geistiger Bewegungenâ an, also
den Aufweis von deren sozialer Bedingtheit ; dies gelte gerade auch fĂŒr das
antiteleologisch verstandene PhĂ€nomen der âGerichtetheitâ von GefĂŒhlen, Il-
lusionen, Willen und Gedanken (GW 8, 1354, nach M VII/11/19). Noch in
der Rede Der Dichter in dieser Zeit (1934) hÀlt er mit Blick auf das damalige Er-
starken kollektivistischer und antidemokratischer Ideologien fest : â[D]ie Ge-
schehnisse sind nicht theoretisch entstanden, sondern wirklich und vieldeutig,
wie es alles Wirkliche ist.â (GW 8, 1249) Ein intellektueller Roman51, der sei-
ner Zeit gerecht werden will, muss sich also auch mit den sozialen UmstÀnden
und HintergrĂŒnden der dargestellten und diskutierten Ideologien auseinan-
dersetzen, nicht bloĂ mit deren propositionalen Gehalten.
Hier ist freilich eine PrÀzisierung angebracht : Wie er in der Beantwortung
einer Umfrage der Moskauer Zeitschrift Nowy Mir zu Protokoll gibt, zielt
Musil in seinem Roman darauf, âbekannte Fehler der europĂ€ischen Ideolo-
gie bloĂ[zu]legenâ (Br 1, 471). Dies bedeutet aber keineswegs, dass er selbst
eine bestimmte ideologische StoĂrichtung verfolgt. GegenĂŒber widerspiege-
lungstheoretischen AnsÀtzen des Marxismus, die einen Primat des objektiven
âSeinsâ vor dem subjektiven âBewusstseinâ postulieren, betont der Essay Das
hilflose Europa im Sinne des beweglicheren Gestaltlosigkeitstheorems, dem-
zufolge die gesellschaftlichen âUmstĂ€ndeâ nicht nur als ökonomische Basis
zu verstehen sind : âMan soll nicht immer denken, daĂ es [das menschliche
âWesenâ, N. C. W.] das tut, was es ist, sondern es wird das, was es â aus Gott
weiĂ welchen GrĂŒnden â tut. Die Leute machen sich ihre Kleider, aber auch
die Kleider machen Leute, und die Physiognomie ist eine unter Druck von
innen und auĂen bewegliche Membran.â (GW 8, 1081) Sogar die körperli-
50 Requardt : Robert Musil und das Dichten âMore geometricoâ, S. 35.
51 Musil selber beansprucht freilich gar nicht, einen âintellektuellen Romanâ verfasst zu haben, wie
er im Brief an Bernard Guillemin vom 26.1.1931 festhĂ€lt : âIch will ja eigentlich gar nicht einen
âintellektuellenâ Roman schreiben, sondern einen traditionellen, der Intellekt hat !â (Br 1, 498)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208