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87Grundlagen
der Poetik Musils
Man muĂ schon ein kurzes GedĂ€chtnis oder ein weites Gewissen haben, um ĂŒber
spĂ€terer Besinnung das zu vergessen. [âŠ] Man muĂ schon ein sehr ungebildetes Ohr
fĂŒr das Leben haben, um ĂŒber der pazifistischen Gewissensstimme diese Stimme des
Geschehens nicht gehört zu haben. Und selbst wenn Millionen von Menschen sich,
ihre Existenz, ihre Lebensziele, ihre NĂ€chsten, ihren Gesamtbesitz an Heroismus
bloĂ einem Phantom geopfert haben sollten : kann man denn da einfach wieder zu
BewuĂtsein erwachen, aufstehen und weggehen wie nach einem Rausch, das Ganze
eine Trunkenheit, eine Psychose[57], eine Massensuggestion, ein Blendwerk des Kapi-
talismus, Nationalismus oder was immer nennend ? (GW 8, 1060 f.)
Musil meint, es lasse âsich nicht leugnen, daĂ die Menschheit zu jener Zeit
(und natĂŒrlich alle Völker in der gleichen Weise) von etwas Irrationalem, Un-
vernĂŒnftigem, aber Ungeheurem berĂŒhrt worden ist, das fremd, nicht von der
gewohnten Erde warâ (GW 8, 1060). Diese Erfahrung gelte es nun trotz oder
gerade wegen ihrer âatmosphĂ€risch unbestimmten Naturâ durch eine einge-
hende Analyse zu ergrĂŒnden.58 Es handelt sich beim âSommererlebnis im
Jahre 1914â (GW 8, 1060), das sich in seinem eigenen kriegsbejahenden Es-
say EuropÀertum, Krieg, Deutschtum (September 1914) auf exemplarische Weise
an den in Wien Ă€uĂerst prĂ€senten und wortgewaltigen Kriegsgegner Karl Kraus ; vgl. etwa des-
sen harsche Kritik an den âKriegslyriker[n] und alle[n], die mit dem Wort zur Tat geholfen habenâ,
in Kraus : Die Kriegsschreiber nach dem Kriege [1918], passim, Zit. S. 8, besonders aber die
1. Szene von Kraus : Die letzten Tage der Menschheit, S. 69â83, wo die irrationale Kriegsbe-
geisterung und deren Anstachelung durch die Presse aufs Korn genommen werden. Kraus
hatte sich freilich schon im November 1914 in einem Essay gegen den Krieg und die geistigen
Kriegstreiber ausgesprochen ; vgl. Kraus : In dieser groĂen Zeit. Zu den ideologiegeschichtli-
chen ZusammenhĂ€ngen vgl. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 271â275. Dazu Musil
im Arbeitsheft 21 (1920â1926) : âKraus[â] Kriegsgegnerschaft ist moralisch ebenso steril wie die
Kriegsbegeisterung.â (Tb 1, 634) Dass es sich bei der retrospektiven Kritik der Kriegsbegeiste-
rung um eine seit den letzten Kriegsjahren hÀufiger anzutreffende Position handelt, zeigt neben
den pazifistischen Schriften von Franz Werfel und anderen auch die aus genuin weiblicher Per-
spektive in erlebter Figurenrede erfolgte Betrachtung ĂŒber den von âSchulmeister[n]â bewirk-
ten âallgemeine[n] Taumelâ bei Kriegsausbruch, mit dem die (von Musil allerdings nirgends
erwĂ€hnte) Unterhaltungsschriftstellerin Clara Viebig ihren sozialkritischen âRoman aus unserer
Zeitâ Töchter der Hekuba (1917) einleitete : âSie waren eben alle nicht bei Sinnen gewesen, die
Söhne nicht, die Lehrer nicht, die VĂ€ter nicht â alle nicht. Nur die MĂŒtter sahen, wie es wirklich
war ; die ahnten, wie es kommen wĂŒrde. Gekommen war.â (Viebig : Töchter der Hekuba, S. 2 ;
Hinweis darauf in Sprengel : Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900â1918, S. 825)
57 In seinem Essay Der Adlerkopf (3.1.1920) nennt Carl von Ossietzky die allgemeine Kriegsbegeis-
terung von 1914 tatsĂ€chlich âeine Volkspsychoseâ (Ossietzky : Der Adlerkopf, S. 171).
58 Wie bereits in Kap. I.2.1 betont wurde, ist Musil weniger an einer âirrationalistischen Ausdeu-
tung des Kriegesâ interessiert, was Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 97, inkriminiert, son-
dern allererst an einer Analyse des beim Kriegsausbruch um sich greifenden Irrationalismus.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208