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88 Teil I: Grundlegung
niederschlĂ€gt (vgl. GW 8, 1020â1022), ganz offensichtlich um eine Urszene
von Musils Schriftstellerexistenz nach seiner RĂŒckkehr von der Front ins zivile
Leben. Ihm zufolge birgt es eine gewaltige Gefahr, âein Erlebnis zu unterdrĂŒ-
cken, das nicht erledigt ist, und gerade dadurch die UrsprĂŒnge einer ungeheu-
erlichen Hysterie in die Seele der Nation zu senken !â (GW 8, 1061) Die kol-
lektive VerbrĂŒderung und âmystischeâ Einswerdung beim Ausbruch des Ersten
Weltkriegs (vgl. MoE 1394) dĂŒrfe nicht einfach zur âHalluzinationâ erklĂ€rt und
somit verdrĂ€ngt werden ; es gelte vielmehr, ihr die âarchaistische Maskeâ zu
entreiĂen und âzu fragen, was da eigentlich an einen doch lĂ€ngst entschlafe-
nen Vorstellungs- und GefĂŒhlsbereich so heftig seltsam pocheâ (GW 8, 1060).
Musil formuliert mit diesen Worten zu dem spĂ€ter als âanderer Zustandâ be-
nannten PhĂ€nomen ein Pensum, das auch fĂŒr seine ErzĂ€hlkunst gilt und das
noch prognostischen Wert fĂŒr die Zeit der Niederschrift des groĂen Romans
haben sollte.
Ein gutes Jahrzehnt spÀter nÀmlich hat Musil angesichts der Massenauf-
mÀrsche und generell der Massenbewegungen in den totalitÀren Regimes der
dreiĂiger Jahre wiederholt DĂ©jĂ -vu-Erlebnisse ; die Bedeutung des einzelnen
Individuums scheint ihm historisch im Schwinden begriffen zu sein (vgl. Tb 1,
725). In seiner Rede Der Dichter in dieser Zeit konstatiert er mit merklich kriti-
scherem Akzent, der Kollektivismus fĂŒhre dazu, âdaĂ der Mensch als Staats-
bĂŒrger mancherorts heute so organisiert wird, daĂ von ihm beinahe nichts
ĂŒbrigbleibt als der unendlich kleine Schnittpunkt der verschiedenen öffentli-
chen AnsprĂŒche. Der individuellen SphĂ€re wird die Mehrzahl der Rechte ent-
zogen und der öffentlichen ĂŒberantwortetâ (GW 8, 1249). Diese und Ă€hnliche
Feststellungen sind deskriptiv, aber kaum affirmativ zu verstehen, wie in den
vergangenen Jahren im Sinne der Diskursanalyse und ihrer radikalen Anni-
hilation des Subjekts verschiedentlich nahegelegt wurde.59 Den ambivalenz-
59 Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 183, meint, dass die âBilanzâ von Musils âGe-
genĂŒberstellung zwischen dem souverĂ€nen Individuum als Subjekt und dem Unpersönlichen,
das das Subjekt nur noch als Ăberschneidung von mehreren Funktionen erscheinen lĂ€Ătâ, âein-
deutig den zweiten Pol begĂŒnstigtâ. Dem kann im GroĂen und Ganzen noch beigepflichtet
werden, wohingegen Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, S. 270â274, in seiner ansonsten
sehr verdienstvollen und anregenden Untersuchung die diskursanalytische Annihilation des
Subjekts auf eine verblĂŒffende Spitze treibt, indem er das von Ulrich hypothetisch vorhergesagte
âherrlichste Abenteuerâ (MoE 572) nach dem diagnostizierten Bedeutungsverlust der Individu-
alitĂ€t im bevorstehenden Ersten Weltkrieg verwirklicht sieht (S. 270), ja âUlrich höchstselbstâ
als âPhĂ€notypâ des auf den Krieg spezialisierten und funktionalisierten JĂŒngerâschen âArbeitersâ
apostrophiert (S. 272). Hoffmanns provokante Deutung, die sich von Ulrichs ebenfalls hypo-
thetisch prognostizierter Neubewertung der âPersönlichkeitâ (MoE 572 u. 1441) nicht beirren
lÀsst, gipfelt in der These, Ulrichs Antwort auf die Kontingenzerfahrung in der Moderne laufe
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208