Seite - 89 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 89 -
Text der Seite - 89 -
89Grundlagen
der Poetik Musils
freien Deutungen zieht Musil im Gegenteil enge Grenzen : âWahrscheinlich
ist der Mensch keine Ameise und deshalb wird schlieĂlich auch der TrĂ€ger
der KollektivitĂ€t der Einzelne seinâ (GW 8, 1250 ; vgl. GW 8, 1265) â freilich
nicht im Sinn eines obsoleten ritterlichen Heroismus. Im Gegensatz dazu ist
es âgerade der SpieĂbĂŒrger, der den Beginn eines ungeheuren neuen, kollek-
tiven, ameisenhaften Heldentums vorausahntâ (MoE 13), womit die AffinitĂ€t
des entindividualisierten Untertanen zu einem seltsam atavistischen â und in
sich widersprĂŒchlichen â âheroischenâ Kollektivismus angedeutet wird, die
sich nach 1933 auch im realen Geschichtsverlauf bestÀtigen sollte.60 Musil zu-
folge geriete wohl jede vorbehaltlose Positivierung des Kollektivismus in eine
bedenkliche NĂ€he zu der von ihm karikierten Ideologie des KleinbĂŒrgertums,
die auf SubalternitĂ€t hinauslĂ€uft. Noch das âStudienblatt soziale Fragestel-
lungâ konstatiert zwar, dass das âZeitalter des Individualismus [âŠ] zu Endeâ
gehe, setzt dieser Entwicklung aber einen als oppositionelle Haltung durchaus
positiv konnotierten âIndividualismus Ulrichs und Agathesâ entgegen (MoE
1867).61
Dennoch hat Walter Moser nicht Unrecht, wenn er den konzeptionellen
Stellenwert der Diagnose vom radikalen Bedeutungsverlust des Einzelschick-
sals und der heroischen Einzelleistung im Musilâschen Romankosmos her-
vorhebt. Musil selbst hat seinem Protagonisten Ulrich Entsprechendes in den
Mund gelegt :
Die Muskelleistung eines BĂŒrgers, der ruhig einen Tag lang seines Wegs geht, ist be-
deutend gröĂer als die eines Athleten, der einmal im Tag ein ungeheures Gewicht
stemmt ; das ist physiologisch nachgewiesen worden, und also setzen wohl auch die
kleinen Alltagsleistungen in ihrer gesellschaftlichen Summe und durch ihre Eignung
fĂŒr diese Summierung viel mehr Energie in die Welt als die heroischen Taten ; ja die
heroische Leistung erscheint geradezu winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer
Illusion auf einen Berg gelegt wird. (MoE 12)
im Sinne der militĂ€rischen Psychotechnik letztlich âdarauf hinaus, mit der ganzen Menschheit
in ein Manöver zu ziehenâ (S. 274). Vgl. dazu jetzt die Kritik von Martens : Beobachtungen der
Moderne, S. 378â382, die auf die rhetorische Zurichtung â insbesondere die ironische Brechung
â der von Musil adaptierten historischen und ideologischen Diskurse abhebt.
60 Vgl. bereits die allgemeinere Notiz aus dem Arbeitsheft 9 (1919/20) : â[D]en Durchschnitts-
menschen als BazillentrÀger aller GrÀuel der Welt zeichnen. Der Mann des französischen Impe-
rialismus, des ungarischen weiĂen Terrors ! Der enternstete Mensch !â (Tb 1, 443)
61 Vgl. auch das ca. 1926 entstandene Essayfragment Charakterologie und Dichtung : âDie heroische
Phase des Individualismus ist vorbei, durchaus nicht der Individualismus selbst.â (GW 8, 1404,
nach M VI/2/21)
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208