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96 Teil I: Grundlegung
nerseits âbeschreiben, abschĂ€tzen, messen, mit andern vergleichen kann â und
zwar in seiner IndividualitĂ€t selbstâ â und andererseits âzu dressieren oder zu
korrigieren, zu klassifizieren, zu normalisieren, auszuschlieĂen hatâ.79 Diese
Art der Normalisierung bringt allerdings kein bloĂ maschinenhaftes Subjekt
hervor, sondern ein zugleich objektiv genormtes und subjektiv unverwechsel-
bares : Die Konstitution des Individuums hat ânichts mehr mit Heroisierung zu
tunâ, sondern âfungiert als objektivierende VergegenstĂ€ndlichung und subjekti-
vierende Unterwerfungâ.80 Es handelt sich bei dieser doppelseitigen Entwick-
lung um âdas Heraufkommen einer neuen Spielart der Machtâ, âin der jeder
seine eigene IndividualitÀt als Stand zugewiesen erhÀlt, in der er auf die ihn
charakterisierenden Eigenschaften, MaĂe, AbstĂ€nde und âNotenâ festgelegt
wird, die aus ihm einen âFallâ machenâ.81 Hier liegt der diskurshistorische Ort
von Musils oben skizzierter âdoppelter Distinktionâ, die sich eben nicht nur ge-
gen einen romantischen Individualismus, sondern genauso gegen die entindi-
vidualisierenden AnsprĂŒche des modernen Kollektivismus wendet. Demnach
hat der intellektuelle Roman die unvermeidlichen Begleiterscheinungen des
Normalisierungsprozesses weder zu leugnen noch zu feiern, sondern in ihrer
ganzen Ambivalenz auszuloten.
Eine Reflexion ĂŒber die Auswirkungen der beschriebenen entindividuali-
sierenden Tendenzen auf die ErzÀhlkunst unternimmt Musil in seinem Es-
sayfragment Die Krisis des Romans (1931) : Das âProblem der notwendigen
Ablösung des Individualismus durch den Kollektivismusâ, das mit der gesell-
schaftlichen âRationalisierungâ und dem âVordringen der âWahrscheinlichkeitâ
in den Naturwissenschaftenâ einhergehe, mĂŒsse sich auch in der modernen
Kunst niederschlagen â wenngleich nicht eindimensional affirmativ : âIm Ge-
biet des Romans Ă€uĂert es sich u. a. darin, daĂ man nicht mehr mit naivem
Gewissen Einzelschicksale so wichtig nehmen kann wie ehedem.â (GW 8,
1409) Ebenfalls in diese Richtung weise âdie populĂ€r gewordene Psychoana-
lyse ; ob man ihr im besonderen glaubt oder nicht, hat sie aufs mÀchtigste dazu
beigetragen, daĂ man hinter Einzelschicksalen etwas Typisches vermutetâ
(GW 8, 1409). Genau diese Fragestellung, die sich auch in den âanderen Wis-
senschaftenâ (GW 8, 1409) finden lasse, bildet den spezifischen epistemischen
Hintergrund fĂŒr Musils erklĂ€rte Konzentration auf âdas geistig Typischeâ, das
er schon im Fontana-Interview hervorgehoben hat (GW 7, 939) â was gerade
nicht bedeutet, dass die jeweiligen Denk- und Verhaltensweisen der einzel-
79 Ebd., S. 246.
80 Ebd., S. 247.
81 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208