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97Grundlagen
der Poetik Musils
nen Romanfiguren in sozialer Hinsicht arbitrÀr sind, sondern im Gegenteil,
dass sie eine ĂŒber ihre singulĂ€re IndividualitĂ€t hinausgehende Symptomatik
offenlegen.82 Musil nimmt die allgemein geteilte Annahme, âdaĂ wir uns in
einem Zeitalter des Wissens befĂ€ndenâ, ausgesprochen ernst und sucht seine
spezifische Bestimmung einer zeitgemĂ€Ăen âPosition fĂŒr die Kunstâ darauf zu
begrĂŒnden (GW 8, 1409), ohne einem bloĂen Intellektualismus oder gar Rela-
tivismus zu verfallen, wie noch zu zeigen sein wird. Die beschriebene Tendenz
hat ihm zufolge Auswirkungen nicht nur auf das ErzÀhlen, sondern auf das
gesamte traditionelle GattungsgefĂŒge der Literatur.83
Die Tatsache, dass nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die allgemeine
âsoziale Entwicklung das Einzelwesen [âŠ] nicht mehr so wichtig nimmt wie
zur Biedermeierzeit der Klassikâ, spiegelt sich in der âgeistige[n] Gesamtent-
wicklung vom Dinglichen fort auf Gesetz, Statistik u. a.â, wie Musil in seiner
Rede Der Dichter in dieser Zeit ausfĂŒhrt : âDer Einzelne weiĂ sich wirtschaftlich
und beruflich ins Ganze verflochten. Der Gedanke, daĂ es â irgendwie â nicht
mehr so sehr auf ihn ankomme, liegt schon in ihm selbst, und ist vom Krieg
dazu noch sehr eindringlich doziert worden.â (GW 8, 1246) Diese Entwick-
lung fĂŒhrt nun nicht nur dazu, âdaĂ man in der ErzĂ€hlung, namentlich im
Roman, [âŠ] Einzelschicksale nicht mehr so wichtig zu nehmen vermag wie
82 Vgl. Willemsen : Vom intellektuellen Eros, S. 84 f., wonach etwa âdie spiegelbildlichen Gestal-
ten Ulrich und Clarisse eine historisch schwach determinierte AusprÀgung des menschlichen
Prinzips [verkörpern]â ; die symptomatische Valeur zeige sich in scheinbar ganz individuellen
Lebensbereichen : âIn der Liebe steckt als Prinzip ebensoviel Allgemeines wie in der Architek-
tur.â Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 76, stellt dementsprechend fest, es gehe
Musil um die Aufdeckung von âGrundstrukturen der Gesellschaft, die sich hinter den Lebens-
entwĂŒrfen verbergen. Die verschiedenen LebensentwĂŒrfe bilden ein Geflecht von persönlichen
Beziehungen und Individuum-Umwelt-VerhÀltnissen aus, die einzeln eine mögliche Haltung zur
Moderne und als Gesamtheit ein Gesellschaftspanorama darstellen.â
83 Zur Dramatik vgl. etwa folgende metafiktionale Passage aus Musils Schauspiel Die SchwÀrmer,
die dort zwar dem eher lÀcherlich gezeichneten Detektiv Stader in den Mund gelegt wird, der
damit aber eine Ă€ltere Formulierung von Musils Alter Ego Thomas zitiert : âWir stehen an der
Schwelle einer neuen Zeit, die von der Wissenschaft gefĂŒhrt oder zerstört, jedenfalls beherrscht
werden wird. Die alten Tragödien sterben ab und wir wissen nicht, ob es neue noch geben wird,
wenn man heute schon im Tierexperiment durch einige Injektionen MĂ€nnchen die Seele von
Weibchen einflöĂen kann und umgekehrt. Wer kein Integral auflösen kann oder keine Experi-
mentaltechnik beherrscht, sollte heute ĂŒberhaupt nicht ĂŒber seelische Fragen reden dĂŒrfen.â
(GW 6, 392) Die von Musil allgemein diagnostizierte Bedeutung der modernen Wissenschaften
vom Menschen fĂŒr den Umbau des gesamten kulturellen Systems nimmt einen bevorzugten Ar-
beitsbereich der Diskursanalyse vorweg ; vgl. etwa Foucault : Ăberwachen und Strafen, S. 33 u.
26, zu den diskursiven Umstellungen, die mit der Herausbildung des modernen âWissenschaft/
Justiz-Komplexesâ einhergehen : âEine gewisse Tragödie ist zu Ende, es beginnt eine Komödie
mit schattenhaften Silhouetten, gesichtslosen Stimmen, unbetastbaren Wesen.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208