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102 Teil I: Grundlegung
Publikums gegen einen Schriftsteller wie mich und der Vorwurf des Ana-
lytischen, Zersetzenden. Man mĂŒĂte wirklich darauf RĂŒcksicht nehmen
und immer mit den Optimismus auf Synthese wecken. Denn es ist wirklich
ekelhaft, beunruhigt zu werden. Die Abneigung gegen das âHerumstierlnâ
im Dasein ist berechtigt. (Tb 1, 719 ; vgl. GW 8, 1219 f.)
Damit wird die experimentelle Offenheit des essayistischen Romankonzepts
freilich keineswegs prinzipiell verabschiedet. In einem poetologischen Frag-
ment aus den frĂŒhen zwanziger Jahren mit dem Arbeitstitel Der Dichter und
diese Zeit hat Musil postuliert : âMoral ist das Abstraktum des Handelns, Kunst
ein Morallaboratorium, an einzelnen FĂ€llen werden hier neue Analysen und
Zusammenfassungen probiert. Sie liefert keine seelischen Kleider, sondern
jene Untersuchungen, auf Grund deren fĂŒr spĂ€tere Generationen solche ge-
macht werden.â (GW 8, 1351) Es sind die experimentellen Möglichkeiten,
die Musil an der ErzÀhlliteratur interessieren. Er stellt sich damit in die von
Ămile Zola begrĂŒndete Tradition des Experimentalromans, ohne dessen âli-
terarische Methodeâ zu ĂŒbernehmen. Zola hatte âdas neue wissenschaftliche
Zeitalterâ zum Anlass einer auch kĂŒnstlerischen Erneuerung gemacht, sich
dabei aber â so zumindest Musil 1927 in einem Geburtstagsartikel fĂŒr Alfred
Kerr â nur vordergrĂŒndig âauf das Experiment und die Anwendung der Natur-
wissenschaften auf die VorgĂ€nge in GemĂŒt und Geist des Menschenâ gestĂŒtzt :
Die Lösung war falsch â, Zola hatte sich eine sehr unvollstĂ€ndige Vorstellung vom
Wesen der Naturwissenschaft gemacht und diese noch dazu unrichtig ĂŒbertragen â
aber die Problemstellung war richtig ; denn die Anpassung an das naturwissenschaft-
liche Weltbild kann der Literatur nicht erspart bleiben und ein gut Teil ihrer heutigen
Gegenstandslosigkeit geht darauf zurĂŒck, daĂ sie sich dabei verspĂ€tet hat.[88] Dieser
Forderung werden selbst die heute Neugeborenen nicht entrinnen, vorausgesetzt,
daà sie spÀter genug Intelligenz besitzen, um sie zu bemerken. (GW 8, 1183)
Die Ă€sthetischen Konsequenzen, die Musil aus besagter âProblemstellungâ
zieht, sind allerdings ganz andere als die seines französischen VorgÀngers :
âMit âNaturalismusâ wird das nichts zu tun haben. Mit Realismus ja. Man kann
auf die Dauer keinen erfundenen, sondern nur einen realen Idealismus brau-
chen.â (GW 8, 1183) Durch solche Worte distanziert sich Musil nicht allein
vom objektivistischen Gestus des mittlerweile in die Jahre gekommenen Natu-
88 Musils Argumentation Àhnelt hier der bereits 1924 im Rahmen eines Essays veröffentlichten
Kritik von Döblin : Der Geist des naturalistischen Zeitalters, S. 185 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208