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109Grundlagen
der Poetik Musils
wirken106 bzw. als âblaĂ gewordene Abstraktionenâ, wie er um 1926 in seinem
Essayfragment Charakterologie und Dichtung formuliert (GW 8, 1403, nach M
VI/2/20). Er stattet seine Romanfiguren vielmehr mit spezifischen habituellen
Kennzeichen aus und schafft somit erzÀhlerisch glaubhaft VerhÀltnisse, die in
einer strukturellen Homologie zu jenen der ârealenâ sozialen Welt stehen : Der
ErzÀhler ordnet den Figuren jeweils bestimmte körperliche Merkmale, eine
individuelle Herkunft und Geschichte, persönliche Umgangs- und Ausdrucks-
formen, soziale und ökonomische Verhaltensweisen, Denkgewohnheiten,
politische PrĂ€ferenzen und geschmackliche Vorlieben zu â ganz im Sinn der
bereits erwĂ€hnten âZeitfiguren. 1920â, die Musil zur Vorbereitung seines Ro-
mans skizziert hat. Vermeiden möchte er mit dieser erzÀhlerischen Strategie
unter anderem die Gefahr, bloĂ â[c]onstruirte Empfindungenâ bzw. âPapier-
empfindungenâ zu gestalten (Tb 1, 153).
In seinen Ăberlegungen ĂŒber Form und Inhalt geht Musil sogar noch weiter :
âWarum lernt der Techniker gewisse Dinge besser in der Fabrik als auf der
theoretisch hohen Schule ? Dann [sic] weil diese Darstellung stÀrker auf den
Willen wirkt. [âŠ] Die Suggestivkraft der Handlung ist stĂ€rker als die des Ge-
dankens.â (GW 8, 1301) Diese ca. 1910 notierten Worte sind fĂŒr ihn von gera-
dezu existenzieller Bedeutung, weil sich in ihnen auch seine nur ein Jahr zuvor
gefallene Entscheidung gegen die wissenschaftliche Laufbahn als Techniker,
Philosoph oder Psychologe und fĂŒr das damals weitaus riskantere Leben als
Schriftsteller bzw. KĂŒnstler niederschlĂ€gt.107 Die praktische Arbeit der âFa
brikâ
wird demnach vom Menschen unmittelbarer inkorporiert als die abstrakte
Theorie. Sie flieĂt als habitualisierter Handgriff unter Umgehung des GroĂ-
hirns direkt in das KörpergefĂŒhl ein. Die mit diesem Beispiel veranschaulichte
partielle Ăberlegenheit der Habitualisierung gegenĂŒber einer bloĂen Diskur-
sivierung kann nun fĂŒr die Literatur fruchtbar gemacht werden, die âdas, was
sich nicht mehr mit Worten allein sagen lĂ€Ăt, durch jenen vibrierenden Dunst
fremder Leiber anzudeutenâ in der Lage ist, âder ĂŒber einer Handlung lagertâ
(GW 8, 998), wie der Essay Ăber Robert Musilâs BĂŒcher (1913) eher beilĂ€ufig
106 Die traditionelle Forschungsmeinung sieht in Musils Romanfiguren hingegen hĂ€ufig bloĂ
âKristallisationskerne von Ideenâ (so Berghahn : Die essayistische ErzĂ€hltechnik Robert Musils,
S. 121) bzw. reine âIdeentrĂ€ger[ ]â oder âFunktionstrĂ€gerâ von Weltanschauungen (so Nusser :
Musils Romantheorie, S. 41 f. u. passim).
107 Vgl. die BegrĂŒndung seiner Ablehnung der ihm von Alexius Meinong angebotenen Assisten-
tenstelle fĂŒr Psychologie an der UniversitĂ€t Graz im Brief an Meinong vom 18.1.1909 : â[A]llein
meine Liebe zu kĂŒnstlerischer Literatur ist nicht geringer als die zur Wissenschaft und durch
sie wurde die scheinbar leichte Entscheidung zu einer Lebensfrage fĂŒr mich.â (Br 1, 63) Dazu
Corino : Musil [2003], S. 316 f. u. 1884 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208