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110 Teil I: Grundlegung
formuliert. Insbesondere fĂŒr die Literatur gelten Musils Beobachtungen ĂŒber
die entscheidende Rolle des GefĂŒhls im menschlichen Erkenntnisprozess, die
er nicht erst seit seiner Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) immer wieder
von neuem umkreist. Die von der analytischen Philosophie neuerdings inten-
siv diskutierte GefĂŒhlstheorie Musils108, mit der er sich zeitlebens beschĂ€ftigte
und die er zwischenzeitlich seinem Alter Ego Ulrich in den Mund zu legen
trachtete (vgl. MoE 1123â1130, 1138â1146, 1156â1174 u. 1189â1203), erklĂ€rt
auf provokante Weise sogar die formallogische âEvidenzâ der Wissenschaften
aus dem GefĂŒhl, âweil die Logik ihre Wurzeln im GefĂŒhle hat und die Evidenz
das Charakteristikum des GefĂŒhls istâ (Tb 1, 118).
Der im Mann ohne Eigenschaften nicht nur von Ulrich formulierte, son-
dern auch das Romankonzept insgesamt prĂ€gende Umstand, dass die âUn-
terschiede des Lebens [âŠ] an den Wurzeln sehr nahe beisammen[liegen]â
(MoE 644), hat weitgehende Konsequenzen fĂŒr âdas Denkenâ selbst, wie Mu-
sil bereits in seinem Essay Der mathematische Mensch (1913) auseinandersetzt :
âMit seinen AnsprĂŒchen auf Tiefe, KĂŒhnheit und Neuheit beschrĂ€nkt es sich
vorlĂ€ufig noch auf das ausschlieĂlich Rationale und Wissenschaftliche. Aber
dieser Verstand friĂt um sich und sobald er das GefĂŒhl erfaĂt, wird er Geist.
Diesen Schritt zu tun, ist Sache der Dichter.â (GW 8, 1007 f.) Allein die Dich-
tung vermag demzufolge âVerstandâ in âGeistâ zu transformieren, indem sie sich
nach dem in der Skizze der Erkenntnis des Dichters entwickelten Programm
vom âratioĂŻden Gebietâ des âwissenschaftlich Systematisierbare[n], in Gesetze
und Regeln zusammenfaĂbare[n]â ab- und dem unberechenbaren ânicht-ra-
tioĂŻden Gebietâ âder Herrschaft der Ausnahmen ĂŒber die Regelâ zuwendet
(GW 8, 1026â1029). Musils Rede zur Rilke-Feier weist dementsprechend darauf
hin, âdaĂ die Eindeutigkeit des Erkennens ĂŒberhaupt nur dort vorhĂ€lt, wo
die GefĂŒhlslage im groĂen stabil istâ (GW 8, 1240) â also nur unter idealen,
gleichsam klinischen Bedingungen bzw. unter UmstÀnden, die im gewöhnli-
chen Leben selten anzutreffen sind und die in ihrer aseptischen Konstellation
âdas Klingen, die zweite Dimension des Gedankensâ (GW 8, 1337) zum Ver-
schwinden bringen. Hier liegt die gnoseologische StĂ€rke der Literatur begrĂŒn-
det, die im Unterschied zur Wissenschaft ja gerade in der Lage ist, âunreineâ
soziale Versuchsanordnungen praktisch zu erstellen und durchzuspielen.
108 Vgl. Mulligan : Musils Analyse des GefĂŒhls ; Döring : Ăsthetische Erfahrung als Erkenntnis des
Ethischen ; Misselhorn : Musils GefĂŒhlstheorie im Kontext. Aus literaturwissenschaftlicher
Sicht vgl. Heydebrand : Die Reflexionen Ulrichs, S. 117â133 ; BĂŒren : Zur Bedeutung der Psy-
chologie im Werk Musils, S. 127â170 ; Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 135â
141 ; Bonacchi : Die Gestalt der Dichtung, S. 116â120 u. 338â362.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208