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114 Teil I: Grundlegung
An diesem Punkt soll freilich nicht verschwiegen werden, dass der fertigge-
stellte Romantext an entscheidender Stelle ein geradezu gegenlÀufiges Kon-
zept vertritt â zumindest in theoretischer Hinsicht : So verlangt Ulrich in ei-
nem GesprÀch mit Walter wohl nicht ohne metanarrative Hintergedanken
seines essayistischen Autors und ErzÀhlers,
daĂ man zuerst die Haltung der persönlichen Habgier gegenĂŒber den Erlebnissen
aufgeben mĂŒĂte. Man mĂŒĂte die also weniger wie persönlich und wirklich und mehr
wie allgemein und gedacht oder persönlich so frei ansehn, als ob sie gemalt oder
gesungen wĂ€ren. Man dĂŒrfte ihnen nicht die Wendung zu sich geben, sondern mĂŒĂte
sie nach oben und auĂen wenden. (MoE 364 f.)
In den pragmatischer ausgerichteten erzÀhltechnischen Reflexionen vom Be-
ginn seiner Arbeit am groĂen Roman betont Musil hingegen insistierend die
zentrale Bedeutung âsozialerâ und âerotischerâ Erlebnisse fĂŒr das Identifikati-
onspotenzial, das einem literarischen Text innewohnt. Dabei scheint der zu
reflektierenden Exkursen neigende ErzÀhler sich fast selber zu beschwören :
âImmer durch eine Wendung den Gesichtspunkt von der gerade handeln-
den Person aus nehmen ! Ihr scheint es, sie fĂŒhlt, meint, hört sagen âŠâ (M
II/1/142) ErzĂ€hlökonomisch sei es sogar â[a]m besten, diese Situationen von
den Hauptpersonen aus [zu] stellenâ (M II/1/145). Wie immer es sich mit
der konkreten erzÀhlpraktischen Umsetzung solcher metanarrativer Selbst-
anleitungen verhĂ€lt â ein fortlaufendes Motiv von Musils erzĂ€hltechnischen
Maximen und Reflexionen âfĂŒr den Hausgebrauchâ sind jedenfalls die genuin
erzÀhlerischen Mittel, mit denen sich die suggestive Wirkung der behandelten
Gedanken optimieren lĂ€sst. Dazu gehört auch das â fĂŒr die Schreibweise des
spĂ€ten Musil nur recht bedingt charakteristische114 â gezielte Erzeugen von
Spannung : âSpannen ! Den Leser das Kommende raten lassen. Ein StĂŒck mit-
denken und dann allein gehn lassen. Man deutet eine kommende Situation
an und es muss der Gedanke entstehen : was wird denn unser guter X. da
machen ? Der humoristische Roman lebt davon. Geistreich schreiben, fesseln
genĂŒgt nicht.â (M II/1/143)
114 Dazu zĂ€hlen u. a. die erwartungsgenerierenden erzĂ€hlerischen âVorgriffeâ (vgl. Genette : Die
ErzĂ€hlung, S. 50), etwa : âUlrich hatte den bestimmten Eindruck, daĂ sie auserwĂ€hlt seien, ein-
ander groĂe Unannehmlichkeiten durch Liebe zu bereiten.â (MoE 95) Oder : â[E]r hatte plötz-
lich das GefĂŒhl, daĂ er nĂ€her an einer Entscheidung stehe, als er denke, und daĂ dieses junge
MĂ€dchen berufen sei, daran mitzuwirken.â (MoE 489) Zur âPsychologie des literarischen Mas-
senerfolgsâ und somit auch zum Problem der Erzeugung von Spannung vgl. Musils Eintrag in
sein Arbeitsheft 10 anlÀsslich eines Artikels der Neuen Freien Presse vom 3.12.1920 (Tb 1, 516 f.).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208