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115Grundlagen
der Poetik Musils
Verschiedene erzÀhlerische Mittel können dazu dienen, das erklÀrte Ziel zu
erreichen, so etwa die bewusste BeschrĂ€nkung auf â[a]ktuelle Milieusâ oder
die Konstruktion in â[z]wei Spannungsreihen ; z. B. ein Geheimnis wird er-
zĂ€hlt : eine Reihe durch den Inhalt fĂŒr höhere Menschen, zweite Reihe fĂŒr
alle Menschen â das ErzĂ€hlen eines (beliebigen) Geheimnisses.â (M II/1/142)
Dies klingt fast nach Thomas Manns âdoppelter Optikâ115, die allerdings weder
in den kanonischen noch in den apokryphen Teilen des Mann ohne Eigen-
schaften zu finden sein wird. EinschlĂ€giger fĂŒr die tatsĂ€chliche Textgestalt des
spĂ€teren Romans ist hingegen folgende Idee : âJe ein gutes und ein schlechtes
Exemplar von allen Erscheinungen und Typen verwenden.â (M II/1/146) Da-
mit scheint in gewisser Weise die von Dieter KĂŒhn diagnostizierte romaneske
Konstruktionsform von âAnalogie und Variationâ vorweggenommen116, die im
Kontext der Figurenanalysen genauer betrachtet werden soll. Wichtiger noch
im Zusammenhang der hier leitenden Frage nach der Gesellschaftskonstruk-
tion im Medium des Textes ist jedoch die erzÀhlerische Konstitution der Ro-
manfiguren, ihre narrative Habitusausbildung.
So stellt Musil bereits 1921, in einem frĂŒhen Planungsstadium seines gro-
Ăen Romans, Ăberlegungen zu den konzeptionellen Voraussetzungen erzĂ€h-
lerischer Figurenkonstitution an. Auf den ersten Blick prÀsentiert sich die zu
bewÀltigende Aufgabe noch vergleichsweise einfach :
Wie inkorporiert man ? Man nimmt ein BĂŒndel Gedanken und denkt sich die dazu-
gehörigen Verhaltungsweisen aus, mehr braucht man von einem Menschen nicht zu
geben. Der Rest fast jedes Menschen ist gewöhnlich. In der Handlung muss man das
dann auch so zeichnen. Menschen tauchen auf aus der Gewöhnlichkeit, wenn ihr
Stichwort kommt : sind auf eine WellenlÀnge abgestimmt. (M II/1/145 ; vgl. Tb 1,
390)
Musils Behauptung des âAbgestimmtseinsâ einzelner Menschen auf eine ih-
nen jeweils eigene âWellenlĂ€ngeâ, die sich akustischer bzw. medientechnischer
Metaphorik bedient, deutet indes ein eminentes erzÀhlerisches Problem an,
das sich mit dem Bourdieuâschen Stichwort âHabitusâ bezeichnen lĂ€sst â also
mit der Vorstellung einer generativen Matrix, die bewirkt, dass die von ihr
hervorgebrachten einzelnen Handlungen und ĂuĂerungen einer Person zu-
einander passen, also âstimmigâ sind, und den Eindruck von IndividualitĂ€t
115 Vgl. dazu den Abschnitt zu Ulrich und Arnheim im Kap. II.3.2.
116 Vgl. KĂŒhn : Analogie und Variation.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208