Seite - 118 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 118 -
Text der Seite - 118 -
118 Teil I: Grundlegung
lichen â Helden, dessen Habitus in der anspruchsvolleren deutschsprachigen
ErzÀhlliteratur der zwanziger Jahre eine Ausnahmeerscheinung darstellt.120
Damit sind die erzĂ€hllogischen Voraussetzungen dafĂŒr gegeben, dass Ulrichs
kritische Reflexionen nicht als Ausfluss einer sozialen oder charakterlichen
Deformation gedeutet werden können, sondern auf eine ganz spezifische habi-
tuelle Formation zurĂŒckzufĂŒhren sind. Seine dispositionelle Anlage macht den
Roman â und damit auch dessen Autor â sogar angreifbar, weil seine ernst
zu nehmende, ja Respekt gebietende intellektuelle und ethische Statur einen
jovialen ErzĂ€hlton nach Art des Thomas Mannâschen Zauberberg ausschlieĂt
und die im Mann ohne Eigenschaften strukturbildende erzÀhlerische Ironie vor
besondere Schwierigkeiten stellt.
Eine wichtige Möglichkeit ironischer Gestaltung besteht in den verschiede-
nen Techniken narrativer Perspektivierung, deren tatsÀchlich textkonstitutive
Bedeutung fĂŒr den Roman neuerdings wieder kontrovers diskutiert worden
ist.121 Musil fĂŒhrt davon einige ausdrĂŒcklich an : So empfiehlt er, streckenweise
â[e]ine Nebenperson zur scheinbaren Hauptperson [zu] machen und von ihr
aus gesehn die eigentliche Hauptperson deutlicher und undeutlicher werden
[zu] lassenâ (M II/1/142). Wie sich an den verschiedensten Nebenfiguren des
Romans â etwa Walter und Clarisse (MoE 64â67) oder Arnheim (MoE 323 f.)
â zeigen lĂ€sst, wird diese Technik im Mann ohne Eigenschaften regelmĂ€Ăig an-
gewendet. Keineswegs marginal ist auch das altehrwĂŒrdige âPrinzip der minis-
teriellen BekleidungsstĂŒckeâ â wie Musil es nennt â, das einen Sonderfall der
eben erwÀhnten Technik darstellt und in gewisser Weise mit der im apokry-
phen Romanteil ausgefĂŒhrten GefĂŒhlstheorie Ulrichs bzw. Musils (vgl. oben)
kongruiert :
Nie sieht ein Mensch irgendwie aus, sondern immer bemerkt ein anderer, dass er so
aussieht. So streng, dass von Karenins HĂ€nden als von groben und knochigen gespro-
chen wird, wenn Anna sie ansieht, von weichen weissen, wenn es Lydia Iwanowna
120 Vgl. dazu die abschlieĂenden Bemerkungen in Kap. III.1.2.
121 Vgl. aus narratologischer Perspektive Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 40 f., der sich
ausdrĂŒcklich nicht an das in autoreflexiven Passagen ĂŒbermittelte âSelbstverstĂ€ndnis Musilsâ
hÀlt, sondern an die narrative Struktur des Romantextes. Die nicht zu bestreitende Tatsache der
âerzĂ€hlerischen Vermittlungâ, die Martens dabei gegen den hĂ€ufig betonten Musilâschen âPers-
pektivismusâ in Anschlag bringt, Ă€ndert jedoch wenig an der in zahlreichen Passagen dennoch
vorliegenden narrativen Perspektivierung des diegetischen Geschehens aus unterschiedlichen
figuralen Gesichtspunkten â etwa aus den Blickwinkeln Clarisses (MoE 144â147), Tuzzis (MoE
200â202), Diotimas (MoE 227â231), Arnheims (MoE 505â511) oder Agathes (MoE 725â732),
um nur einige Beispiele zu nennen.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208