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119Grundlagen
der Poetik Musils
tut. Die Reflexionen sind immer Gedanken der einzelnen Personen. So entsteht der
starke Eindruck des Nebeneinanderbestehens der verschiedenen Weltbilder, ohne
dass es irgendwie forziert wĂŒrde. Man sieht z. B., wie Anna aussieht, wenn sie wohl-
wollend und wenn sie nicht wohlwollend empfunden wird. â Fast ein Tric[k], wie
Tolstoi dem glĂŒcklichen Durchschnittsmenschen das FamilienblĂ€ttliche nimmt : in-
dem er leise lÀcherliche oder böse Nebenregungen nicht verschweigt. Z. B. Oblonsky
kommt zu ThrĂ€nen gerĂŒhrt von Karenin und ist glĂŒcklich ĂŒber das gute Werk, das
er versucht, zugleich aber auch glĂŒcklich ĂŒber einen Witz, den er sich ausdenkt. (M
II/1/144)
Im Mann ohne Eigenschaften begegnet das âPrinzip der ministeriellen Beklei-
dungsstĂŒckeâ nicht immer gleichermaĂen konsequent, was auf die zentrale
Stellung der extradiegetischen ErzĂ€hlstimme122 zurĂŒckzufĂŒhren ist, die hĂ€ufig
den Gesichtspunkt des zentralen Protagonisten einnimmt. So scheint nicht
ganz klar, ob die âfette und gewichtsloseâ Hand, die Diotima ihrem Cousin bei
der ersten Begegnung reicht (MoE 93), aus der Perspektive Ulrichs oder des
auktorialen ErzĂ€hlers bemerkt wird, was ebenso fĂŒr die in der Folge erwĂ€hnte
âSchönheit Diotimasâ gilt, der sich neben anderen Romanfiguren (Arnheim,
Stumm von Bordwehr) auch Ulrich ânicht ganz entziehenâ kann (MoE 93)
und die er somit trotz ihrer intersubjektiven Geltung auch aus persönlichem
Blickwinkel wahrnimmt. Indem Musils ErzÀhler die Figuren nicht allein mit
âministeriellen BekleidungsstĂŒckenâ, sondern ĂŒberdies mit offensichtlichen
SchwÀchen ausstattet, erscheinen ihre Handlungen und Gedanken romanim-
manent deutlich perspektiviert und relationiert. Im kanonischen Text wird er
sich solcher Techniken der Perspektivierung ausgiebig bedienen und sie auch
im Fall der intellektuellen Hauptfigur anwenden â etwa wenn er hinsicht-
lich der StraĂenschlĂ€gerei zu Beginn des Romans ironisch kommentiert, der
zwar wohltrainierte, aber eben auch unablÀssig reflektierende Ulrich scheine
âdoch angesichts dreier Strolche etwas zu viel gedacht zu habenâ (MoE 26),
um sich gegen seine Angreifer erfolgreich zur Wehr setzen zu können. Die
von der Musil-Kritik bisweilen inkriminierte Handlungshemmung, die aus der
Gedankenverliebtheit des Romanhelden resultiert, erweist sich somit bereits
ausdrĂŒcklich als Gegenstand erzĂ€hlerischen Spotts.
Ebenfalls eine perspektivierende und relationierende Funktion hat die
durch kĂŒnstliche NaivitĂ€t erzeugte erzĂ€hlerische Ironie, die alle in sich stabi-
len IdentitÀten und PrÀferenzen unterminiert und im Mann ohne Eigenschaf-
ten allenthalben zu finden ist : âSich dumm stellen. Mit angenommener Na-
122 Zur Terminologie vgl. Genette : Die ErzÀhlung, S. 163 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208