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120 Teil I: Grundlegung
ivitÀt erzÀhlen. So wie ironische Menschen Höflichkeiten sagen, von denen
man nicht weiss, wie sie gemeint sind. Man muss auch das, was man liebt, so
durchdenken und beherrschen, dass es satyrisch erscheint.â (M II/1/146) Die-
ses ErzÀhlprinzip geht insbesondere in die Gestaltung der Figur Stumm von
Bordwehr ein, die geradezu als seine figurale Verkörperung gelten kann.123
DarĂŒber hinaus generiert es aber auch generell einen wichtigen Teil der Ironie
der romanesken ErzÀhlstimme. Musil verfÀhrt hier etwa nach dem rhetori-
schen Muster, das er in seinem Interview mit Alfred Polgar (1926) an dessen
stilistischem Verfahren diagnostiziert :
Er lĂ€Ăt die Dinge vorbei, versetzt ihnen eines von hinten, und dadurch zerfallen sie
wie auseinandergenommene Spielzeuge. Das ist seine Philosophie, und seine Technik
des Schreibens bedient sich fĂŒr diesen Zweck zum Beispiel der SimultaneitĂ€t, indem
sie still nebeneinander setzt, was im Leben vereint ist, aber sich gar nicht vertrÀgt,
sobald die atmosphĂ€rische SoĂe der Gewohnheit davon genommen wird, oder er
macht es so, daĂ er etwas, das er tadeln will, arglos in der Mitte der lobenswerten
EindrĂŒcke promenieren lĂ€Ăt, aber ihm das Sprachgewand des Lobes heimlich ver-
kehrt anzieht. (GW 8, 1158)
Beide Techniken scheinbarer NaivitĂ€t â sowohl das parataktische Neben-
einandersetzen tatsÀchlich unvereinbarer Dinge als auch die Nennung ta-
delnswerter Dinge inmitten von lobenswerten â lassen sich im Mann ohne
Eigenschaften an zahlreichen Stellen finden124 und haben Àsthetisch eine
âverfremdendeâ Wirkung. Insbesondere die parataktische Reihung von kate-
goriell Unvereinbarem erzeugt die âMonstrositĂ€tâ solcher AufzĂ€hlungen, die
Foucault zufolge darin besteht, âdaĂ der gemeinsame Raum des Zusammen-
123 Vgl. dazu die einschlĂ€gigen AusfĂŒhrungen in Kap. II.2.1.
124 Besonders hÀufig begegnet hier das parataktische Nebeneinandersetzen von Dingen, die nicht
unter eine gemeinsame Oberkategorie gebracht werden können bzw. sich nicht auf der sel-
ben kategoriellen Ebene befinden und die deshalb unvereinbar scheinen ; vgl. etwa zwei will-
kĂŒrlich herausgegriffene Stellen : âIhr Lieblingsbegriff war âhochanstĂ€ndigâ ; sie wandte ihn auf
Menschen, Dienstboten, GeschĂ€fte und GefĂŒhle an, wenn sie etwas Gutes von ihnen sagen
wollte.â (MoE 42) âZivilisationâ â anders als Kultur â âist ein hinderlicher Zustand, voll von
Seife, drahtlosen Wellen, der anmaĂenden Zeichensprache mathematischer und chemischer
Formeln, Nationalökonomie, experimenteller Forschung und der UnfÀhigkeit zu einem einfa-
chen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen.â (MoE 103) Die gleichsam idealtypische
Ausformung einer kategoriell inhomogenen parataktischen Reihung liefert wiederum Stumm
von Bordwehr, indem er verschiedene mit dem PrĂ€fix âinterâ gebildete Wörter aufzĂ€hlt und da-
bei zuletzt entschieden danebengreift : âInteressant, interministeriell, international, interkurrent,
intermediĂ€r, Interpellation, interdisziert, intern und einiges andere kenne ichâ (MoE 1133).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208