Seite - 123 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 123 -
Text der Seite - 123 -
123Grundlagen
der Poetik Musils
festlegt : âEs gibt keine Gestalt ohne Inhalt.â (M III/5/18) Der Essay Literat
und Literatur konstatiert in diesem Sinn,
daĂ Form und Inhalt eine Einheit bilden, die sich nicht gĂ€nzlich zerlegen lĂ€Ăt, [âŠ]
daĂ ĂŒberhaupt nur geformte Inhalte den Gegenstand der Kunstbetrachtung bilden ;
es gibt keine Form, die nicht an einem Inhalt, keinen Inhalt, der nicht durch eine
Form in Erscheinung trÀte, und solche Amalgame aus Form und Inhalt bilden die
Elemente, aus denen sich das Kunstwerk aufbaut. (GW 8, 1218)
Damit ist eine wesentliche Differenz zwischen kĂŒnstlerischen und wissen-
schaftlichen Texten benannt, deren propositionaler Gehalt dem eigenen
SelbstverstÀndnis nach meist nicht an eine ganz bestimmte Darstellungsform
gebunden scheint.
Musils erzÀhlerisches Stilideal sucht ganz offenbar die Vorteile literarischen
und wissenschaftlichen Schreibens zu vereinen, insbesondere die beiden Qua-
litÀten Anschaulichkeit und Genauigkeit bzw. sogar Explizitheit. In diesem
Sinn bestimmt er seine âErzĂ€hlungstechnikâ bereits in der Planungsphase der
frĂŒhen zwanziger Jahre als zwar âim allgemeinen objektiv, aber wo erwĂŒnscht,
rĂŒcksichtslos subjektivâ (M II/1/146 ; vgl. Tb 1, 579). Die ErzĂ€hlweise des Ro-
mans kann demnach variieren und sich nach den jeweiligen konzeptionellen
bzw. gedanklichen BedĂŒrfnissen richten. Hinsichtlich der narrativen Darstel-
lung von GesprÀchen ermahnt sich Musil selbst zur erzÀhlerischen Objektivi-
tĂ€t bzw. Unparteilichkeit : âIch muss alles mit dem gleichen Respekt vorbrin-
gen. Und nur eigentlich Anders[134] tadeln, der zu intellektuell ist, wenn er
selbst auch die KrĂ€fte der Zeit in sich hat.â (M II/1/147) DarĂŒber hinaus zielt
er keineswegs darauf ab, zu âschreiben, wie man mĂŒndlich erzĂ€hltâ ; dieses
traditionelle rhetorische bzw. stilistische Ideal sowie die dazugehörige Forde-
rung, beim Formulieren â[l]autâ zu âlesenâ, hĂ€lt er schon Anfang der zwanzi-
ger Jahre fĂŒr âĂŒbertriebenâ.135 Wichtiger sei es, zu â[g]estalten, wie es der Geist
satz nicht liest, S. 70â75 ; Vatan : Musil et la question anthropologique, S. 135â209 ; davor schon
Hickman : Musils Essay Literat und Literatur, S. 41â50 ; Luserke : Gestalt- und gegenstandsthe-
oretische Implikate ; Venturelli : Musil und das Projekt der Moderne, S. 83â180.
134 Es handelt sich um die Hauptfigur, die im kanonischen Text dann Ulrich heiĂen wird.
135 Noch Anfang 1930, zur Zeit der Reinschrift des ersten Romanteils, hĂ€lt Musil die ĂŒberkom-
mene Vorstellung, Kunst mĂŒsse âunmittelbar wirkenâ, fĂŒr â[e]ines der gefĂ€hrlichsten Vorur-
teileâ ; er fĂŒgt im Sinne der Psychotechnik hinzu : âMan kann ja unschwer analysieren, was dazu
gehört, damit etwas unmittelbar wirkt.â (Tb 1, 813) Das inkriminierte Postulat unmittelbarer
Wirkung fĂŒhre âzur VernachlĂ€ssigung der dĂ€monischen, titanischen udgl. unangenehmen BĂŒ-
cher.â (Tb 1, 813)
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208